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Ehrenwort

Titel: Ehrenwort
Autoren: Ingrid Noll
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sie am liebsten Märchen las. »Sie bleibt ein ewiges Kind«, meinte er gönnerhaft. Er ahnte nicht, dass sie gelegentlich flüsterte:

    Ich arme Jungfer zart,
    ach hätt' ich genommen
    den König Drosselbart!

    Petra glaubte, der alte Mann liebte seine Frau erst, seit sie tot war. Seine Ilse fehlte ihm an allen Ecken und Enden, vielleicht tat es ihm jetzt leid, dass er geizig und ihr gegenüber sehr autoritär gewesen war.

2

    »Manns manum lavat - eine Hand wäscht die andere. Und da ich dir nicht gut im Alter die Zehennägel schneiden kann, habe ich eine andere Idee: Wenn ich tot bin, sollst du meine Bücher erben«, sagte der Großvater zu Max. »Das heißt, du musst dich natürlich mit Mizzi einigen. Deine Eltern haben ja genug eigene Exemplare.«
    Max nickte. Seine Mutter war schließlich Buchhändlerin; in den elterlichen Wohnzimmerregalen hatten sich Leseexemplare und Bestseller der letzten zwanzig Jahren angesammelt. Darüber hinaus besaß sein Vater noch eine Bibliothek im Arbeitszimmer, zwei String-Wände waren von oben bis unten mit Fachbüchern über Kläranlagen, Tiefbau, Wasserlaufkorrekturen, Straßensanierungen, Friedhofserweiterungen etc. zugestellt.
    Im Sortiment des Alten gab es allerdings nichts, was Max oder Mizzi wirklich interessierte. Jede Menge veraltete Lexika standen da, wo man doch heute nur noch bei Wikipedia nachschaute. Lateinische und griechische Wörterbücher, gebundene Zeitschriften aus den Nachkriegsjahren. Auch Klassiker wie Shakespeare und Goethe, Lessing und Keller waren vertreten, zur Unterhaltung gab es ein paar französische Romane. Unter Umständen besaß sein Großvater auch Literatur aus der Nazizeit, aber da kannte sich Max nicht aus. Und es interessierte ihn auch nicht, wie sich der Alte im Dritten Reich verhalten hatte. Es war jedoch auffallend, dass er seine Kinder Harald und Karin genannt hatte, obwohl sie erst nach dem Krieg geboren wurden.
    Das Haus der Großeltern war Anfang der sechziger Jahre gebaut worden. Max mochte die Durchreiche von der Küche zum Essplatz (die er als Kind zum Kasperlespiel benutzt hatte) und auch die geräumige Speisekammer, aber sonst waren ihm die Zimmer zu klein, die Decken zu niedrig, das Gärtchen zu langweilig. Seine Großmutter hatte irgendwann ein ehemaliges Kinderzimmer besetzt, in dem sie später auch schlief. Dort standen ihre ganz persönlichen Bücher - fast ausschließlich Märchen und Sagen aus aller Welt. Gleich dreimal vertreten war Der Butt von Günter Grass, wohl weil eine namensgleiche Ilsebill darin vorkam. Omas schön illustrierte Märchensammlung liebten sowohl Mizzi als auch Max, aber das übrige Erbe würden sie bei eBay anbieten.
    Der Alte kramte in den Schubladen. »Hier, meine Doktorarbeit«, sagte er zu Max, »über Ovids Metamorphosen. Willst du sie mal in Ruhe lesen?«
    Max warf einen Blick auf den unverständlichen Titel und nickte freundlich. Der Opa zog jetzt eine Tischdecke heraus.
    »Hat deine Großmutter selbst gestickt«, sagte er, »Kreuzstich, glaube ich. Nimm sie für Mizzi mit, für die Aussteuer.«
    »Opa, sie hat wenig Platz...«
    »Hat sie jetzt endlich einen Freund? Mir kannst du es ja sagen...«
    »Frag sie lieber selbst«, sagte Max, was der Alte aber falsch interpretierte.
    »Ist er etwa verheiratet?«
    Max fand es mühsam, dass er dem Alten keinen reinen Wein einschenken durfte. Sein Vater hatte es streng verboten, den Großvater über Mizzi aufzuklären. Doch vielleicht war der Alte gar nicht so verklemmt wie sein Sohn.
    »Von Oma hängt noch ein teurer Pelzmantel im Schrank«, sagte der Alte, »ich würde ihn gern verkaufen. Vielleicht weißt du einen Abnehmer.«
    »Fun furs sind gerade in, echte Pelze weniger«, sagte Max, »da hättest du kaum Chancen. Aber kann ich das gute Stück mal sehen?«
    Max zog den schwarzgelockten Persianer seiner Großmutter an, der zwar einige Mottenlöcher aufwies, aber angenehm wärmte. Er stellte sich im Flur vor den großen Spiegel und gefiel sich gut.
    Der Großvater schlurfte ihm nach. »Scheiße siehst du aus«, sagte er, und Max musste grinsen.
    »Sagen wir mal eher - rattenscharf. Opa, ich werde versuchen, den Mantel auf dem Flohmarkt zu verhökern, aber das ist reine Glückssache. Soll ich noch etwas für dich tun?« Max wollte allmählich weg.
    »Vielleicht könntest du mir etwas Warmes brutzeln«, sagte der Alte, »ich habe heute noch nichts gegessen. Und in den letzten Tagen immer nur Spiegeleier oder Lasagne.«
    Max ging in die Küche. Obwohl
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