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Ehrenwort

Titel: Ehrenwort
Autoren: Ingrid Noll
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voller Entzücken: »Schau doch, Willy! Sterntaler wie im Märchen!«
    Für ihn war es die reinste Qual geworden, Laub aufzukehren, Unkraut zu rupfen oder den Rasen zu mähen, und der Garten sah inzwischen dementsprechend aus. Heute aß er auch bei schönstem Wetter nur noch vor laufendem Fernseher. Kürzlich war ihm dabei das fettige Spiegelei vom Teller geglitten, zum Glück fiel das Gelb auf Ilses rosa Plüschsessel kaum auf. Wenn der Junge nicht wäre, der ihm gelegentlich einen Gefallen tat, dann würde er womöglich verlottern. Neulich bat er darum, ihm die Haare zu scheren, und Max lachte schallend. »Opa, da gibt es nicht mehr viel...«

    Seine Schwiegertochter Petra machte sich Sorgen, stieß aber bei ihrem Mann auf taube Ohren. Harald mochte seinen Vater sowieso nicht gern besuchen und tat es nur, wenn seine Schwester, die sich schon in jungen Jahren nach Australien abgesetzt hatte, ihm heftig einheizte. Vorläufig käme Papa noch gut zurecht, behauptete er. Petra kannte zwar die Probleme ihres Mannes mit seinem Vater, sah aber darin keinen Grund, die Verantwortung für den Alten abzuschieben. Gegen Haralds Willen und leicht zerstritten fuhr das Paar an einem eiskalten Sonntag nach Dossenheim, einem Heidelberger Vorort, um sich persönlich ein Bild zu machen. Während der Alte und sein Sohn im Wohnzimmer Cognac tranken und über die Unfähigkeit der heutigen Politiker räsonierten (persönliche Themen waren bei Vater und Sohn seit langem tabu), machte Petra eine kleine Razzia.

    Es war schlimm, was sie da im Kühlschrank vorfand. Fast alles verschimmelt, abgelaufen, speckig. Schmutzige Wäsche türmte sich auf dem Sofa des Gästezimmers, es stank. Das Bett war offenbar seit einer Ewigkeit nicht frisch bezogen worden. Den muffigen Geruch im ausgekühlten Haus überlagerten Zigarrenschwaden, Wohnraum und Küche waren dagegen völlig überheizt.
    Zurück im Wohnzimmer, fragte Petra ihren Schwiegervater, wann er das letzte Mal etwas Warmes gegessen habe. Gestern sei er im Wirtshaus gewesen, sagte er, dort gebe es vorzügliche Jägerschnitzel. Mit dem Wagen sei er in fünf Minuten dort.
    Erst jetzt wurde Harald hellhörig. Irgendwie hatte er völlig verdrängt, dass sein Vater mit bald neunzig Jahren immer noch mit seinem alten Opel herumkurvte.
    »Du hättest deinen Führerschein längst abgeben und das Auto endlich verschrotten lassen sollen, ich wundere mich sowieso, dass du es noch durch den TÜV gebracht hast«, sagte er energisch.
    Der Alte warf Petra einen flehenden Blick zu, er erwartete ihren Beistand. Schon lange hielt er sie für seine Verbündete, und in gewisser Weise war sie das auch. Hin und wieder nannte er sie versehentlich Ilse.
    »Harald meint es nur gut mit dir«, behauptete Petra. »Stell dir mal vor, ein Kind flitzt über die Straße, und du kannst nicht mehr schnell genug reagieren...«
    »Ich sehe noch wie ein Adler und höre wie ein Luchs«, fiel Willy seiner Schwiegertochter ins Wort und beendete damit das Gespräch.

    Auf dem Heimweg murmelte Harald immer wieder empört: »So ein sturer alter Bock«, hörte aber kaum hin, wenn Petra laut über Lösungsmöglichkeiten nachdachte. Der Gestank der Wäsche im Kofferraum raubte einem fast den Atem.
    »Riechst du es nicht? Ich glaube, dein Vater leidet unter Inkontinenz«, schimpfte Petra.
    Sie schwiegen eine Weile, bis Harald wieder lospolterte: »Ich kann sein immer gleiches Geschwätz kaum mehr ertragen: Lasst mir bloß meine Ruhe, ihr könnt mir alle den Buckel runterrutschen, nach mir die Sintflut, ist mir doch egal, die Welt geht sowieso bald unter... und so weiter.«

    Ja, dachte Petra, wenn Ilse noch lebte, wäre alles einfacher. Gemeinsam wären die beiden bestimmt in eine kleinere, altersgerechte Wohnung umgezogen, wo nach Bedarf professionelle Hilfe angeboten wurde. Zu Ilse hatte sie immer ein sehr gutes Verhältnis gehabt, ihre Schwiegermutter vertraute ihr sogar Dinge an, über die sie mit den eigenen Kindern niemals gesprochen hätte. Zum Beispiel, dass ihre Ehe mit Willy nicht glücklich gewesen war. Mit achtzehn Jahren hatte sich Ilse in einen Nachbarssohn verliebt, der allerdings nicht besonders ansehnlich war. Alle hatten ihn wegen seines vorstehenden Kinns verspottet, wovon sie sich leider beeinflussen ließ. Ilse entschied sich für den stattlichen Willy Knobel, der für damalige Verhältnisse gute berufliche Chancen hatte. Es wurde eine langweilige, zuweilen trostlose Ehe.
    Der Alte machte sich oft über Ilse lustig, weil
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