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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton
Autoren: Sommer
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von irgendwelchem
praktischen Nutzen gewesen wäre, und sie hatte keine Skrupel, die Schließung
der Bibliothek eine Stunde früher zu verfügen, wenn es ihr beliebte. Ein paar
Minuten, nachdem Mr. Harney gegangen war, faßte sie diesen Entschluß, legte die
Spitze weg, machte die Fensterläden zu und drehte den Schlüssel in der Tür zum
Tempel des Wissens um.
    Die Straße, auf die sie hinaustrat,
war noch leer: und nachdem sie einen Blick hinauf und hinunter geworfen hatte,
machte sie sich langsam auf den Weg nach Hause. Doch statt hineinzugehen,
spazierte sie an dem Haus vorbei, bog in einen Feldweg ein und stieg zu einer
Weide auf dem Hügel hinauf. Sie öffnete das Gatter, folgte einem Pfad entlang
der zerbröckelten Mauer, die das Weideland umgab, und ging weiter, bis sie zu
einer Kuppe kam, wo eine Gruppe Lärchen ihre frischen Triebe dem Wind entgegenreckten.
Dort legte sie sich auf den Hang, warf ihren Hut beiseite und verbarg das
Gesicht im Gras.
    Sie war vielen Dingen gegenüber
blind und unempfänglich und sich dessen auch vage bewußt; aber jede Faser
ihres Herzens reagierte auf alles, was Licht und Luft, Duft und Farbe war. Sie
liebte die Rauheit des trockenen Berggrases unter ihren Handflächen, den Geruch
des Thymians, in den sie ihr Gesicht preßte, den Wind, der über ihr Haar strich
und durch ihr Baumwollkleid blies, und das Knarren der Lärchen, die sich darin
wiegten.
    Sie stieg oft auf den Hügel und lag
dort allein, nur weil sie es genoß, den Wind zu spüren und das Gras an ihren
Wangen entlangstreifen zu lassen. Gewöhnlich dachte sie dabei an gar nichts,
sondern lag nur da, in ein unbestimmbares Wohlbehagen eingetaucht. Heute kam zu
ihrem Wohlbehagen noch die Freude darüber, der Bibliothek entkommen zu sein.
Sie mochte es zwar, wenn eine Freundin während der Dienststunden hereinschaute
und mit ihr plauderte, aber sie haßte es, wegen Büchern belästigt zu werden.
Wie sollte sie sich erinnern, wo welches stand, wenn so selten danach gefragt
wurde? Orma Fry nahm gelegentlich einen Roman mit, und ihr Bruder Ben
interessierte sich für »Dscheographie«, wie er es nannte, und für Bücher, die
mit Handel und Buchhaltung zu tun hatten; aber sonst fragte keiner je nach
einem Buch, außer gelegentlich nach »Onkel Toms Hütte«, »Opening a Chestnut
Burr« oder Longfellow. Die hatte sie griffbereit und hätte sie selbst im
Dunkeln finden können; doch unerwartete Nachfragen kamen so selten vor, daß
sie sich darüber ärgerte wie über eine Ungerechtigkeit.
    Das Äußere des jungen Mannes hatte
ihr gefallen, seine kurzsichtigen Augen und seine merkwürdige Redeweise, die
abrupt, doch sanft war, genau wie seine Hände sonnengebräunt und kräftig waren,
die Nägel aber so gepflegt wie die einer Frau. Auch sein Haar sah aus wie von
der Sonne verbrannt, oder vielmehr hatte es die Farbe von Adlerfarn nach dem
Frost; die grauen Augen hatten den bittenden Ausdruck der Kurzsichtigen, sein
Lächeln war scheu, doch selbstsicher, als wisse er viele Dinge, von denen sie
nie geträumt hatte, und wolle sie doch um keinen Preis seine Überlegenheit spüren
lassen. Doch sie spürte sie und mochte das Gefühl, denn es war ihr neu. So arm
und ungebildet sie war (und daß sie das war, wußte sie selbst) – die Geringste
von allen sogar in North Dormer, wo es als die schlimmste Schande galt, vom
Berg zu kommen –, sie hatte doch in ihrer begrenzten Welt stets geherrscht. Zum
Teil rührte dies natürlich daher, daß Anwalt Royall »der bedeutendste Mann in
North Dormer« war; eigentlich viel zu bedeutend für den Ort, so daß
Außenstehende, die nicht im Bilde waren, sich stets fragten, was ihn hier
hielt. Trotz allem – und sogar trotz Miss Hatchard – herrschte Anwalt Royall in
North Dormer; und Charity herrschte in Anwalt Royalls Haus. Sie hätte es vor
sich selbst nie so ausgedrückt, doch sie kannte ihre Macht, wußte, woher sie
rührte, und haßte sie. Der junge Mann in der Bibliothek hatte sie zum erstenmal unbestimmt fühlen
lassen, wie süß vielleicht Abhängigkeit wäre.
    Sie richtete sich auf, strich sich
die Grashalme aus dem Haar und blickte auf das Haus hinab, in dem sie herrschte.
Es stand direkt unter ihr, düster und vernachlässigt, die verblaßte rote
Fassade von der Straße durch einen »Hof« getrennt, den ein von Stachelbeerbüschen
gesäumter Weg durchquerte; in dem Hof sah man einen steinernen Brunnen, der von
Waldrebe überwachsen war, und eine kümmerliche rote Kletterrose an
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