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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton
Autoren: Sommer
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Bist du nicht noch zu jung?« fragte sie zögernd.
    »Ich möchte etwas Geld verdienen«,
antwortete Charity knapp.
    »Gibt dir Mr. Royall nicht alles,
was du brauchst? Niemand ist reich in North Dormer.«
    »Ich will so viel Geld verdienen,
daß ich von hier weggehen kann.«
    »Weggehen?« Miss Hatchards verdutzte
Falten wurden tiefer, und es entstand eine peinliche Pause. »Du möchtest Mr.
Royall verlassen?«
    »Ja: oder es muß noch eine Frau ins
Haus kommen«, sagte Charity bestimmt.
    Miss Hatchard umklammerte mit
nervösen Händen die Armlehnen ihres Sessels. Ihr Blick beschwor die
ausgeblichenen Gesichter an der Wand, und nach einem unschlüssigen Hüsteln
brachte sie heraus: »Die ... die Hausarbeit ist zu anstrengend für dich, nicht
wahr?«
    Charity sank das Herz. Sie begriff,
daß Miss Hatchard ihr nicht helfen konnte und daß sie mit ihrem Problem allein
fertigwerden mußte. Sie fühlte sich verlassener denn je und kam sich unendlich
alt vor. »Man muß mit ihr sprechen wie mit einem kleinen Kind«, dachte sie und
empfand dabei Mitleid mit Miss Hatchard, die immer noch so unerfahren war.
»Ja«, sagte sie. »Die Hausarbeit ist zu anstrengend für mich: diesen Herbst
habe ich ziemlich oft gehustet.«
    Sie bemerkte die augenblickliche
Wirkung dieses Hinweises. Miss Hatchard erbleichte bei der Erinnerung an das
Ableben der armen Eudora und versprach, alles zu tun, was in ihrer Macht stehe.
Aber natürlich müsse sie bestimmte Leute zu Rate ziehen: den Pfarrer, die
Gemeinderäte von North Dormer und einen entfernten Verwandten der Hatchards in
Springfield. »Wärst du doch bloß zur Schule gegangen!« seufzte sie. Sie folgte Charity
bis zur Tür, und dort, von ihrem sicheren Standort aus, sagte sie mit einem
Blick, in dem uneingestanden eine flehentliche Bitte lag: »Ich weiß, daß Mr.
Royall manchmal ... schwierig ist; aber seine Frau hat es mit Geduld getragen;
und du darfst nie vergessen, Charity, daß es Mr. Royall war, der dich vom Berg
heruntergeholt hat.«
    Charity ging nach Hause und öffnete
die Tür zu Mr. Royalls »Büro«. Er saß neben dem Ofen und las in den Reden
Daniel Websters. In den fünf Tagen, die vergangen waren, seit er an ihre Tür
gekommen war, hatten sie sich lediglich bei den Mahlzeiten gesehen, und bei Eudoras
Begräbnis war sie neben ihm gegangen; aber sie hatten kein Wort miteinander
gesprochen.
    Überrascht blickte er auf, als sie
eintrat, und ihr fiel auf, daß er unrasiert war und älter aussah als sonst;
aber da sie ihn schon immer als alten Mann betrachtet hatte, rührte sie diese Veränderung in
seinem Aussehen nicht. Sie sagte ihm, daß sie Miss Hatchard besucht habe, und
zu welchem Zweck. Sie sah, daß ihn das überraschte; aber er äußerte sich nicht
dazu.
    »Ich hab' ihr gesagt, die Hausarbeit
ist zu anstrengend für mich, und ich brauchte das Geld, um ein Dienstmädchen
bezahlen zu können. Ich werd' aber nicht für sie bezahlen: du mußt das tun. Ich
will ein bißchen Geld für mich haben.«
    Mr. Royalls buschige schwarze
Augenbrauen hatten sich finster zusammengezogen, und er trommelte mit
tintenbefleckten Nägeln auf die Kante seines Schreibtischs.
    »Wozu brauchst du das Geld?« fragte
er.
    »Damit ich weggehen kann, wenn ich
will.«
    »Warum willst du weggehen?«
    Ihre Verachtung blitzte auf.
»Glaubst du, irgend jemand würde in North Dormer bleiben, wenn er die Wahl
hat? Du doch auch nicht, sagen die Leute!«
    Mit gesenktem Kopf fragte er: »Wohin
willst du denn gehen?«
    »Irgendwohin, wo ich mir meinen
Lebensunterhalt verdienen kann. Erst werd' ich's hier versuchen, und wenn ich's
hier nicht schaffe, dann irgendwo anders. Ich geh' auch auf den Berg, wenn's
sein muß.« Nach dieser Drohung hielt sie inne und sah, daß sie gewirkt hatte.
»Ich will, daß du Miss Hatchard und die Gemeinderäte dazu bringst, daß ich bei
der Bibliothek angenommen werde. Und ich will, daß noch eine Frau ins Haus
kommt«, sagte sie noch einmal.
    Mr. Royall war ungewöhnlich blaß
geworden. Als Charity zu sprechen aufgehört hatte, stand er schwerfällig auf
und lehnte sich gegen den Schreibtisch; einen Augenblick lang sahen sie
einander an.
    »Schau«, sagte er schließlich, als
falle ihm das Sprechen schwer, »da ist etwas, was ich dir sagen wollte, ich
hätte es dir schon längst sagen sollen. Ich möchte, daß du mich heiratest.«
    Das Mädchen starrte ihn immer noch
reglos an. »Ich möchte, daß du mich heiratest«, wiederholte er und räusperte
sich. »Der Pfarrer wird
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