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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton
Autoren: Sommer
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für
ihre Arbeit nur Unterkunft und Verpflegung bekam. Mr. Royall war zu knauserig,
als daß er einem tüchtigen Mädchen einen Dollar pro Tag gezahlt hätte, wenn er
eine taube Armenhäuslerin umsonst bekommen konnte. Aber wie dem auch sei,
Verena lebte nun hier, in der Dachstube direkt über Charitys Zimmer, und daß
sie taub war, störte das junge Mädchen nicht sonderlich.
    Charity wußte, daß das, was sich in
jener entsetzlichen Nacht ereignet hatte, nicht noch einmal geschehen würde.
Sie hatte begriffen, daß Mr. Royall, so gründlich sie ihn seitdem verachtete,
sich selbst noch gründlicher verachtete. Wenn sie um eine Frau im Haus gebeten
hatte, dann weit weniger zu ihrem Schutz als zu seiner Demütigung. Sie brauchte
niemanden, der sie beschützte: sein verletzter Stolz war ihr sicherster Schutz.
Er hatte nie ein Wort der Entschuldigung oder der Beschönigung gesagt; es war,
als habe sich der Vorfall nie ereignet. Und doch waren die Folgen in jedem
Wort zu spüren, das sie miteinander wechselten, in jedem Blick, den sie
instinktiv voneinander abwandten. Nichts würde nun jemals ihre Herrschaft im
roten Haus noch ins Wanken bringen.
    Nach der Begegnung mit Miss
Hatchards Cousin lag Charity im Bett, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und
beschäftigte sich in Gedanken mit ihm. Sie vermutete, daß er einige Zeit in
North Dormer verbringen wollte. Er hatte gesagt, er wolle die alten Häuser in
der Umgebung aufsuchen; und obwohl ihr nicht recht klar war, zu welchem Zweck
er das tat, oder warum sich jemand überhaupt nach alten Häusern umsehen
wollte, wenn sie an jeder Straße auf einen warteten, begriff sie doch, daß er
auf Bücher angewiesen war, und beschloß, am folgenden Tag den Band ausfindig zu
machen, den sie nicht gefunden hatte, und alle anderen Bücher, die
möglicherweise damit zusammenhingen.
    Nie hatte ihre Unkenntnis des Lebens
und der Literatur sie so bedrückt wie jetzt, als sie die kurze Szene ihrer
Niederlage noch einmal durchlebte. »Es hat keinen Zweck zu versuchen, in diesem
Dorf etwas zu sein«, murmelte sie in ihr Kissen; und ihr wurde ganz hilflos bei
der Vorstellung von undeutlich geahnten Metropolen, strahlenden Städten, die
Nettleton weit in den Schatten stellten und in denen Mädchen, noch eleganter
gekleidet als Belle Balch, mit jungen Männern, die Hände hatten wie Lucius
Harney, gewandt über Architektur plauderten. Dann fiel ihr ein, wie er
plötzlich innegehalten hatte, als er an den Tisch getreten war und sie zum
erstenmal angesehen hatte. Bei ihrem Anblick hatte er vergessen, was er sagen
wollte; sie erinnerte sich an seinen veränderten Gesichtsausdruck und sprang
auf und lief über den nackten Bretterboden zu ihrem Waschgestell, fand die
Streichhölzer, zündete eine Kerze an und hob sie vor das viereckige Stück Spiegelglas
an der weißgetünchten Wand. Ihr kleines Gesicht, gewöhnlich von dunkler
Blässe, glühte wie eine Rose im schwachen Schein der Kerze, und unter dem
zerzausten Haar erschienen ihr die Augen tiefer und größer als bei Tag.
Vielleicht sollte sie sich doch nicht wünschen, sie wären blau. Ihr Nachthemd
aus ungebleichtem Leinen war mit einem Band und einem Knopf ungeschickt am
Hals geschlossen. Sie knöpfte es auf, ließ es über ihre dünnen Schultern
gleiten und stellte sich vor, sie sei eine Braut in tief ausgeschnittenem
Satin und gehe mit Lucius Harney den Mittelgang einer Kirche hinunter. Beim
Hinausgehen würde er sie küssen ... Sie stellte die Kerze ab und bedeckte das
Gesicht mit den Händen, als wolle sie den Kuß festhalten. In diesem Augenblick
hörte sie Mr. Royalls Schritte, der die Treppe hinauf ins Bett ging, und ein
jäher Gefühlsumschwung bemächtigte sich ihrer. Bis jetzt hatte sie ihn bloß
verabscheut; nun erfüllte tiefer Haß ihr Herz. Er wurde für sie zu einem
widerlichen Alten ...
    Als Mr. Royall am nächsten Tag zum Mittagessen
nach Hause kam, saßen sie einander wie gewöhnlich stumm gegenüber. Verenas
Anwesenheit bei Tisch war ein Vorwand für ihr Schweigen, obwohl deren Taubheit
den freiesten Austausch von Vertraulichkeiten erlaubt hätte. Als aber die
Mahlzeit vorbei war und Mr. Royall sich vom Tisch erhob, wandte er sich nach
Charity um, die im Zimmer geblieben war, um der alten Frau beim Abräumen zu
helfen.
    »Ich möchte dich einen Augenblick
sprechen«, sagte er; und sie folgte ihm verwundert über den Flur.
    Er setzte sich in seinen schwarzen
Roßhaarsessel, und sie lehnte sich gleichgültig gegen das
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