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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton
Autoren: Sommer
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fieberhaft und wahllos in den
staubigen Bänden der Hatchard-Gedächtnis-Bibliothek; dann verblaßte allmählich
der Eindruck, den Nettleton auf sie gemacht hatte, und sie fand es leichter,
North Dormer als das Maß aller Dinge hinzunehmen, als ihre Lektüre
fortzusetzen.
    Der Anblick des Fremden weckte
wieder Erinnerungen an Nettleton, und North Dormer schrumpfte auf seine
wirkliche Größe. Während sie das Dorf hinauf und hinunter blickte, von Anwalt
Royalls Haus mit dem verblaßten roten Verputz am einen Ende bis zu der weißen
Kirche am anderen Ende, nahm sie es mitleidlos wahr. Da lag es, ein vom Wetter
gebeuteltes, von der Sonne verbranntes Dorf in den Bergen, von der Welt
vergessen, von Eisenbahn, Autobus, Telegraph und allen Mächten, die in einer
Gemeinschaft von heute das Leben der einzelnen miteinander verbinden, links liegen
gelassen. Es gab keine Läden, kein Theater, keine Vorträge, kein
»Geschäftsviertel«; nur eine Kirche, die jeden zweiten Sonntag geöffnet wurde,
sofern es der Zustand der Straßen erlaubte, und eine Bibliothek, für die seit
zwanzig Jahren keine neuen Bücher mehr gekauft worden waren und in der die
alten auf den muffigen Regalen ungestört vor sich hin moderten. Und doch hatte
man Charity Royall stets zu verstehen gegeben, sie müsse es als Privileg
betrachten, daß das Schicksal sie nach North Dormer verschlagen hatte. Sie
wußte, daß North Dormer, verglichen mit dem Ort, wo sie herkam, alle Segnungen
höchster Zivilisation verkörperte. Jeder im Dorf hatte ihr das gesagt, seit sie
als Kind hierhergebracht worden war. Selbst die alte Miss Hatchard hatte einmal
bei einer schrecklichen Gelegenheit zu ihr gesagt: »Mein Kind, du darfst nie
vergessen, daß es Mr. Royall war, der dich vom Berg heruntergeholt hat.«
    Sie war »vom Berg heruntergeholt«
worden; von der zerklüfteten Felswand, die jäh über den niedrigeren Abhängen
des Eagle Range anstieg und einen stets düsteren Hintergrund für das einsame
Tal abgab. Der Berg war gut fünfzehn Meilen entfernt, aber er stieg so schroff
von den niedrigeren Hügeln auf, daß es beinahe schien, als werfe er seinen
Schatten auf North Dormer. Und er wirkte wie ein großer Magnet, der die Wolken
anzog, um sie dann im Sturm über das Tal zu verteilen. Wann immer, selbst bei
klarstem Sommerhimmel, ein feiner Dunstschleier über North Dormer hinwegzog,
trieb er auf den Berg zu wie ein Schiff auf einen Strudel, verfing sich
zwischen den Felsen und zerriß in viele Wolkenfetzen, um dann in Regen und
Dunkelheit von neuem über das Dorf hinwegzufegen.
    Charity hatte keine klare
Vorstellung von dem Berg; aber sie wußte, daß es ein schlimmer Ort war und eine
Schande, von dort herzustammen, und daß, was immer ihr in North Dormer auch
widerführe, sie nie vergessen dürfe, wie ihr Miss Hatchard es einst ins
Gedächtnis gerufen hatte, daß sie von dort
heruntergeholt worden war, und daß sie ihren Mund halten und dankbar sein
müsse. Sie blickte zu dem Berg hinauf, während ihr all das durch den Kopf ging,
und bemühte sich wie gewöhnlich, dankbar zu sein. Doch der Anblick des jungen
Mannes, wie er durch Miss Hatchards Tor gegangen war, hatte das Bild der
glitzernden Straßen von Nettleton wieder in ihr wachgerufen, und sie genierte
sich wegen ihres alten Sonnenhuts, hatte North Dormer satt und dachte neidisch
an Annabel Balch aus Springfield, deren blaue Augen irgendwo in weiter Ferne
Herrlichkeiten betrachteten, die noch imponierender waren als die
Herrlichkeiten von Nettleton.
    »Wie ich das alles hasse!« sagte sie
noch einmal.
    Auf halbem Weg die Straße hinunter
blieb sie vor einem windschiefen Tor stehen. Dann ging sie hindurch und über
einen ziegelgepflasterten Weg zu einem merkwürdigen kleinen Backsteintempel
mit weißen Holzsäulen, die einen Giebel trugen, auf dem in verblaßten
Goldbuchstaben die Inschrift stand: »Honorius-Hatchard-Gedächtnis-Bibliothek,
1832«.
    Honorius Hatchard war der Großonkel
der alten Miss Hatchard gewesen; aber sie hätte zweifellos den Satz umgedreht
und als ihren einzigen Ruhmestitel die Tatsache hervorgehoben, daß sie seine
Großnichte sei. Honorius Hatchard hatte sich nämlich zu Beginn des neunzehnten
Jahrhunderts einer bescheidenen Berühmtheit erfreut. Wie die Marmortafel im
Inneren der Bibliothek den seltenen Besuchern mitteilte, hatte er
bemerkenswerte literarische Gaben besessen, eine Reihe Prosatexte mit dem Titel »Der
Einsiedler von Eagle Range« geschrieben, sich der Bekanntschaft mit
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