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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton
Autoren: Sommer
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legte das
Buch hin, das er gerade abgewischt hatte, und sah sie schweigend an. Sie
überlegte, ob Miss Hatchard ihn hergeschickt habe, um auszukundschaften, wie
für die Bibliothek gesorgt werde, und dieser Verdacht steigerte noch ihren Unmut.
»Ich habe Sie doch vorhin in ihr Haus gehen sehen, stimmt's?« fragte sie,
wobei sie es nach neuenglischer Art vermied, den Familiennamen auszusprechen.
Sie war entschlossen herauszufinden, warum er in ihren Büchern
herumschnüffelte.
    »In Miss Hatchards Haus? Ja – sie
ist meine Cousine, ich wohne dort«, antwortete der junge Mann und setzte hinzu,
wie um ein sichtliches Mißtrauen zu zerstreuen: »Mein Name ist Harney – Lucius
Harney. Vielleicht hat sie schon einmal meinen Namen erwähnt.«
    »Nein, das hat sie nicht«, sagte
Charity und wünschte, sie hätte sagen können: Ja, das hat sie.
    »Ja dann ...«, sagte Miss Hatchards
Cousin lachend; und nach einer weiteren Pause, während der Charity der Gedanke
kam, daß ihre Antwort nicht gerade ermutigend gewesen sei, bemerkte er:
»Architektur scheint nicht Ihre Stärke zu sein.«
    Nun war sie vollends verwirrt: je
mehr sie den Eindruck zu erwecken wünschte, sie verstehe ihn, desto
unverständlicher wurden seine Bemerkungen. Er erinnerte sie an den Herrn, der
in Nettleton die Bilder »erklärt« hatte, und die Last ihres Unwissens legte
sich wieder wie eine schwere Decke über sie.
    »Ich wollte sagen, ich sehe hier
kein einziges Buch über die alten Häuser in der Umgebung. Überhaupt ist die
Gegend wohl kaum erforscht. Alle beschäftigen sich unentwegt mit Plymouth und
Salem. So etwas Dummes. Und dabei ist das Haus meiner Cousine zum Beispiel sehr
bemerkenswert. Dieses Dorf muß eine Vergangenheit gehabt haben – früher muß es
einmal mehr dargestellt haben.« Unvermittelt hielt er inne und errötete, so wie
ein scheuer Mensch errötet, der sich gewissermaßen selbst zuhört und fürchtet,
er sei zu redselig gewesen. »Sehen Sie, ich bin Architekt und auf der Suche
nach alten Häusern in dieser Gegend.«
    Sie sah ihn erstaunt an. »Alte
Häuser? In North Dormer ist alles alt, oder nicht? Die Leute jedenfalls sind
es.«
    Er lachte und schlenderte wieder
davon.
    »Haben Sie nicht irgendein
Geschichtsbuch über die Gegend? Ich glaube, um 1840 ist eines geschrieben worden:
ein Buch oder eine Broschüre über die früheste Besiedlung«, sagte er nun vom
anderen Ende des Raumes her.
    Sie legte die Häkelnadel an die
Lippen und überlegte. Es gab so etwas, das wußte sie: »North Dormer und die
frühen Siedlungen in Eagle County«. Gegen dieses Buch hegte sie einen
besonderen Groll, denn es war ein schmächtiges Bändchen, das dauernd entweder
vom Regal fiel oder nach hinten rutschte und verschwand, wenn man es zwischen
andere Bücher klemmte, die es stützen sollten. Sie erinnerte sich, wie sie es
das letztemal aufgehoben und sich gefragt hatte, warum sich jemand überhaupt die Mühe gemacht
habe, ein Buch über North Dormer und seine Nachbarorte zu schreiben: Dormer,
Hamblin, Creston und Creston River. Sie kannte sie alle, nichts als
gottverlassene Häuseransammlungen in den Falten der öden Gebirgskämme: Dormer,
wo die Bewohner von North Dormer sich die Äpfel holten, Creston River, wo einst
eine Papiermühle gestanden hatte, deren graue Mauern nun am Fluß verfielen,
und Hamblin, wo stets der erste Schnee fiel. Darin bestand ihre ganze
Berühmtheit.
    Sie erhob sich und begann ziellos
vor den Regalen herumzuwandern. Aber sie hatte keine Ahnung, wo sie das Buch
zuletzt hingestellt hatte, und irgend etwas sagte ihr, es werde ihr den
üblichen Streich spielen und unauffindbar bleiben. Heute war kein Glückstag für
sie.
    »Es muß hier irgendwo sein«, sagte
sie, um ihren Eifer zu beweisen; doch sie sprach ohne Überzeugung und spürte,
daß ihre Worte auch so klangen.
    »Ja dann ...«, sagte er noch einmal.
Sie wußte, daß er nun ging, und wünschte sich mehr denn je, das Buch zu finden.
    »Eben das nächste Mal«, fügte er
hinzu; er nahm den Band, den er auf den Tisch gelegt hatte, und reichte ihn
ihr. »Übrigens, ein bißchen Luft und Sonne täten ihm gut; es ist ziemlich
wertvoll.«
    Er nickte ihr lächelnd zu und ging
hinaus.

2
    Die Arbeitszeit der Bibliothekarin der Hatchard-Gedächtnis-Bibliothek
dauerte von drei bis fünf; und Charity Royalls Pflichtgefühl hielt sie
gewöhnlich bis gegen halb fünf an ihrem Schreibtisch.
    Aber sie hatte nie feststellen
können, daß dies für sie selbst oder für North Dormer
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