Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton
Autoren: Sommer
Vom Netzwerk:
Washington
Irving und Fitz-Greene Halleck rühmen können und war in der Blüte seiner Jahre
von einem Fieber dahingerafft worden, das er sich in Italien zugezogen hatte.
Dies war die einzige Verbindung zwischen North Dormer und der Literatur
gewesen, eine Verbindung, an die pietätvoll erinnert worden war durch die
Errichtung der Gedenkstätte, in der Charity Royall jeden Dienstag- und
Donnerstagnachmittag an ihrem Schreibtisch unter dem stockfleckigen Stahlstich
des verstorbenen Dichters saß und sich fragte, ob er sich in seinem Grabe wohl
toter fühle als sie in seiner Bibliothek.
    Lustlos betrat sie ihr Gefängnis,
setzte den Hut ab, hängte ihn an eine Minervabüste aus Gips, öffnete die
Fensterläden und lehnte sich hinaus, um nachzusehen, ob in dem Schwalbennest
über einem der Fenster vielleicht Eier lägen, setzte sich schließlich hinter
den Tisch und zog eine Rolle Baumwollspitze und eine stählerne Häkelnadel
hervor. Sie war keine geschickte Handarbeiterin, und sie hatte viele Wochen
gebraucht, um den halben Meter Spitze zu häkeln, den sie um den Leinenrücken
einer aus dem Leim gegangenen Ausgabe des »Lamplighter« gewickelt hatte. Aber
es war die einzige Möglichkeit, an eine Spitze für ihre Sommerbluse zu kommen,
und seit Ally Hawes, das ärmste Mädchen im Dorf, mit einem neiderweckenden
durchsichtigen Gebilde um die Schultern in der Kirche erschienen war, hatte
Charitys Häkelnadel schneller gearbeitet. Sie entrollte die Spitze, steckte die Nadel
in eine Schlinge und beugte sich mit gerunzelten Brauen über ihre Arbeit.
    Plötzlich ging die Tür auf, und noch
bevor sie die Augen hob, wußte sie, daß der junge Mann, den sie durch das Tor
der Hatchards hatte gehen sehen, die Bibliothek betreten hatte.
    Ohne sie zu beachten, begann er
gemächlich in dem langen, gewölbeartigen Raum herumzuwandern, wobei er die
Hände auf dem Rücken verschränkt hielt und mit kurzsichtigen Augen die Reihen
der modrigen Bucheinbände musterte. Schließlich gelangte er zu ihrem
Schreibtisch und blieb vor ihr stehen.
    »Gibt es hier eine Kartei?« fragte
er unvermittelt mit angenehmer Stimme; sie ließ die Häkelarbeit sinken, so
eigenartig erschien ihr die Frage.
    »Eine was?«
    »Nun, Sie wissen doch ...« Er
unterbrach sich, und ihr wurde bewußt, daß er sie zum erstenmal ansah, nachdem
er sie beim Eintreten mit einem flüchtigen kurzsichtigen Blick offenbar mit zum
Bibliotheksmobiliar gerechnet hatte. Daß er den Faden verlor, als er sie auf
einmal wahrnahm, entging nicht ihrer Aufmerksamkeit, und lächelnd senkte sie
den Blick.
    »Nein, vermutlich wissen Sie es nicht«, verbesserte er sich. »Eigentlich wäre es sogar beinahe schade ...«
    Sie glaubte, leichte Herablassung
aus seinem Ton herauszuhören, und fragte scharf: »Warum?«
    »Weil es viel mehr Spaß macht, in so
einer kleinen Bibliothek selbst herumzustöbern – mit Hilfe der Bibliothekarin.
«
    Er sagte diesen Nachsatz in so respektvollem
Ton, daß sie sofort beschwichtigt war und mit einem Seufzer erwiderte: »Ich
fürchte, ich kann Ihnen nicht viel helfen.«
    »Warum?« fragte er nun seinerseits;
und sie antwortete, es seien ohnehin nicht viele Bücher und sie habe nur ganz
wenige gelesen. »Die Würmer machen sich dran«, fügte sie düster hinzu.
    »Tatsächlich? Jammerschade, es sind
nämlich ein paar gute dabei, wie ich sehe.« Er schien das Interesse an dem
Gespräch verloren zu haben, schlenderte wieder davon und vergaß sie offenbar.
Seine Gleichgültigkeit ärgerte sie, und sie nahm ihre Häkelarbeit wieder auf,
entschlossen, auch nicht den kleinsten Finger für ihn zu rühren. Offensichtlich
brauchte er sie auch gar nicht, denn er drehte ihr den Rücken zu und holte
nacheinander die großen, mit Spinnweben bedeckten Bände von einem Regal
herunter, das weiter weg stand.
    »Also wahrhaftig!« rief er aus; und
als sie aufblickte, sah sie, daß er sein Taschentuch hervorgezogen hatte und
sorgfältig die Kanten des Buchs abwischte, das er in der Hand hielt. Das
erschien ihr wie eine ungerechtfertigte Kritik an ihrer Betreuung der Bücher,
und gereizt sagte sie: »Es ist nicht meine Schuld, wenn sie schmutzig sind.«
    Er wandte sich um und sah sie mit
neu erwachtem Interesse an. »Ach – dann sind Sie gar nicht die Bibliothekarin?«
    »Doch, natürlich; aber ich kann
nicht alle diese Bücher abstauben. Außerdem schaut sie sich keiner mehr an, seit Miss Hatchard zu schlecht
zu Fuß ist, um vorbeizukommen.«
    »Nein, offenbar nicht.« Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher