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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton
Autoren: Sommer
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Gespräch, wobei sie sich noch einmal
hilfesuchend an die Daguerreotypien wandte, und sagte: »Natürlich werde ich stets alles für dich tun,
was in meinen Kräften steht; und falls ... falls ... du weißt, daß du immer zu
mir kommen kannst ...«
    Anwalt Royall erwartete Charity auf
der Veranda, als sie von diesem Besuch zurückkam. Er hatte sich rasiert und seinen schwarzen Rock gebürstet
und wirkte wie das würdevolle Denkmal eines Mannes; in solchen Augenblicken
bewunderte sie ihn wirklich.
    »Nun«, fragte er, »ist alles
geregelt?«
    »Ja, es ist geregelt. Ich gehe
nicht.«
    »Nicht in die Schule nach
Nettleton?«
    »Nirgendwohin.«
    Er räusperte sich und fragte streng:
»Warum?«
    »Ich möchte lieber nicht«, sagte sie
und marschierte an ihm vorbei in ihr Zimmer. In der folgenden Woche brachte er
ihr die Kletterrose und das Fächerspalier aus Hepburn mit. Er hatte ihr noch
nie etwas geschenkt.
    Der nächste außergewöhnliche Vorfall
in ihrem Leben hatte sich zwei Jahre später ereignet, als sie siebzehn war.
Anwalt Royall, der es verabscheute, nach Nettleton zu fahren, war im
Zusammenhang mit einem Fall dorthin gerufen worden. Er übte seinen Beruf noch
immer aus, obwohl es in North Dormer und den umliegenden Weilern nur selten zu
Rechtshändeln kam; und ausnahmsweise bot sich ihm eine Gelegenheit, die auszulassen
er sich nicht leisten konnte. Er verbrachte drei Tage in Nettleton, gewann den
Prozeß und kam bester Laune zurück. Das war eine seltene Stimmung bei ihm, und
sie drückte sich in diesem Fall dadurch aus, daß er beim Abendessen
eindrucksvoll von dem »stürmischen Empfang« erzählte, den ihm seine alten
Freunde bereitet hatten. Er schloß vertraulich: »Es war verdammt dumm von mir,
daß ich von Nettleton weggegangen bin. Aber Mrs. Royall hat es so haben
wollen.«
    Charity begriff sofort, daß ihm
etwas Schmerzliches in seinem Leben widerfahren war und daß er versuchte, die
Erinnerung daran durch Reden auszulöschen. Sie ging früh zu Bett und überließ
ihn am Tisch seinen düsteren Gedanken, wo er saß, die Ellbogen auf das abgenutzte
Wachstuch gestützt. Auf dem Weg nach oben hatte sie aus seiner Manteltasche den
Schlüssel zu dem Schrank herausgeholt, in dem die Whiskeyflasche stand.
    Sie wurde von einem Rütteln an der
Tür geweckt und sprang aus dem Bett. Sie hörte Mr. Royall leise und gebieterisch
reden und schloß die Tür auf, weil sie fürchtete, es sei etwas passiert. Das
war ihr erster Gedanke; doch als sie ihn in der Tür stehen sah, während ein
Strahl des Herbstmondes auf seine aufgelösten Züge fiel, begriff sie.
    Einen Augenblick lang sahen sie sich
schweigend an; als er dann seinen Fuß über die Schwelle setzte, streckte sie
den Arm aus und hielt ihn auf.
    »Du gehst sofort weg«, sagte sie in
einem schrillen Ton, über den sie selbst erschrak. »Heute nacht bekommst du
den Schlüssel nicht.«
    »Laß mich rein, Charity. Ich will
nicht den Schlüssel. Ich bin einsam«, fing er an, mit der tiefen Stimme, die
sie manchmal rührte.
    Ihr Herz zuckte erschrocken
zusammen, aber sie ließ nicht ab, ihm voll Verachtung den Eintritt zu verwehren.
»Da hast du dich offenbar geirrt. Das ist nicht mehr das Zimmer deiner Frau.«
    Sie hatte keine Angst, sie empfand
nur tiefen Abscheu; und vielleicht erriet er ihn oder las ihn in ihrem
Gesicht, denn nachdem er sie einen Augenblick lang angestarrt hatte, zog er
sich zurück und entfernte sich langsam von der Tür. Sie lauschte am
Schlüsselloch und hörte, wie er die dunkle Treppe hinab sich den Weg zur Küche
tastete; und sie wartete darauf, daß er den Schrank aufbrechen würde, doch
statt dessen hörte sie nach einer Weile, wie er die Haustür aufschloß und seine
schweren Schritte durch die Stille zu ihr heraufklangen, als er den Weg zum
Tor hinunterging. Sie schlich ans Fenster und sah, wie seine gebeugte Gestalt
im Mondlicht die Straße hinaufging. Da überkam sie noch im nachhinein ein
Gefühl der Furcht und zugleich das Bewußtsein, einen Sieg errungen zu haben,
und sie schlüpfte wieder ins Bett, kalt bis an die Knochen.
    Ein, zwei Tage später starb die arme Eudora Skeff,
die zwanzig Jahre lang die Hatchard-Bibliothek betreut hatte, plötzlich an
einer Lungenentzündung; und am Tag nach der Beerdigung ging Charity zu Miss Hatchard
und bewarb sich um die Stelle der Bibliothekarin. Der Wunsch schien Miss
Hatchard zu überraschen: offensichtlich zweifelte sie an der Eignung der
Bewerberin.
    »Nun ja, ich weiß nicht, meine
Liebe.
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