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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton
Autoren: Sommer
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Fenster. Sie konnte
es kaum erwarten, zur Bibliothek zu gehen und das Buch über North Dormer zu
suchen.
    »Hör mal«, sagte er, »warum bist du
nicht in der Bibliothek an den Tagen, an denen du eigentlich dort sein
solltest?«
    Die Frage,
die in ihre Stimmung glückseliger Versunkenheit einbrach, verschlug ihr die
Sprache, und sie starrte ihn einen Augenblick lang an, ohne zu antworten.
    »Wer sagt, daß ich nicht dort war?«
    »Offenbar hat sich jemand beschwert.
Miss Hatchard hat mich heute morgen holen lassen ...«
    Charitys schwelender Groll entlud
sich in einem Wutausbruch. »Ich weiß! Orma Fry und die Targatt, dieses Biest —
und Ben Fry höchstwahrscheinlich. Die beiden gehen miteinander. Diese gemeinen
Petzer – ich hab' immer gewußt, daß sie mir die Stelle nicht gönnen! Als ob
überhaupt je irgend jemand in die Bibliothek käme!«
    »Gestern ist jemand gekommen, und du
warst nicht da.«
    »Gestern?« Sie lachte in glücklicher
Erinnerung an das gestrige Ereignis. »Um welche Zeit war ich gestern nicht da?
Das hätt' ich gern gewußt!«
    »Etwa um vier Uhr.«
    Charity schwieg. Sie war in die
träumerische Erinnerung an den Besuch des jungen Harney so vertieft gewesen,
daß ihr entfallen war, daß sie ihren Posten verlassen hatte, sobald er
weggegangen war.
    »Wer ist um vier gekommen?«
    »Miss Hatchard.«
    »Miss Hatchard? Die hat die
Bibliothek doch nie mehr betreten, seit sie gelähmt ist. Und wenn sie's versuchte,
könnte sie nicht die Stufen hinaufkommen.«
    »Man kann ihr hinaufhelfen, denk'
ich. Es wurde ihr jedenfalls gestern geholfen, und zwar von dem jungen Mann,
der bei ihr wohnt. Er hat dich dort früher am Nachmittag angetroffen, habe ich
gehört; er ging dann nach Hause und erklärte Miss Hatchard, die Bücher seien in
schlechtem Zustand und brauchten Pflege. Sie hat sich aufgeregt und sofort im
Rollstuhl hinfahren lassen; und als sie ankam, war die Bibliothek geschlossen.
Also ließ sie mich holen und sprach mit mir darüber und über die anderen
Beschwerden. Sie behauptet, du hättest alles vernachlässigt, und sagt, daß sie
sich eine ausgebildete Bibliothekarin beschaffen will.«
    Charity hatte sich nicht gerührt,
solange er sprach. Sie stand da, den Kopf gegen den Fensterrahmen zurückgeworfen,
die Arme kraftlos an den Seiten und die Hände so fest geballt, daß sie die
scharfen Ränder ihrer Nägel in ihren Handflächen spürte, ohne zu wissen, was
ihr wehtat.
    Von allem, was Mr. Royall gesagt
hatte, hatte sie nur einen Satz behalten: »Er sagte Miss Hatchard, die Bücher
seien in schlechtem Zustand.« Was kümmerten sie die anderen Vorwürfe gegen
sie? Üble Nachrede oder Wahrheit – sie verachtete sie, so wie sie ihre
Verleumder verachtete. Aber daß der Fremde, zu dem sie sich so geheimnisvoll
hingezogen gefühlt hatte, sie verriet! Daß er im selben Augenblick, als sie
sich den Hügel hinaufgeflüchtet hatte, um zärtlicher an ihn zu denken, nach
Hause geeilt war, um ihre Pflichtvergessenheit anzuprangern! Ihr fiel wieder
ein, wie sie in der Dunkelheit ihres Zimmers ihr Gesicht bedeckt hatte, um
seinen imaginären Kuß enger an sich zu drücken; und ihr Inneres tobte gegen
ihn, weil er sich diese Freiheit nicht herausgenommen hatte.
    »Gut, ich werde gehen«, sagte sie
unvermittelt. »Ich gehe sofort.«
    »Du gehst? Und wohin?« Sie hörte den
erschrockenen Ton in Mr. Royalls Stimme.
    »Na, fort von ihrer dummen
Bibliothek: auf der Stelle, und ich setze nie wieder einen Fuß hinein. Die
brauchen nicht zu glauben, daß ich warte, damit sie sagen können, sie hätten
mich entlassen!«
    »Charity – Charity Royall, jetzt hör
mir mal zu ...«, begann er und stand schwerfällig von seinem Sessel auf; aber
sie winkte ihm mit einer Handbewegung ab und verließ das Zimmer.
    Oben holte sie den
Bibliotheksschlüssel unter ihrem Nadelkissen hervor, wo sie ihn immer versteckt
hielt – wer behauptete, sie sei nicht gewissenhaft? –, setzte ihren Hut auf,
rannte wieder hinunter und hinaus auf die Straße. Falls Mr. Royall sie weggehen
hörte, machte er keine Anstalten, sie aufzuhalten: seine plötzlichen Wutausbrüche
ließen ihn wahrscheinlich begreifen, wie sinnlos es war, ihren vernünftig
zuzureden.
    Sie kam zu dem Backsteintempel,
schloß die Tür auf und trat in das eisige Zwielicht. »Ich bin froh, daß ich nie
mehr in dieser alten Gruft sitzen muß, wenn andere Leute draußen in der Sonne
sind!« sagte sie laut, als das wohlbekannte Frösteln sie überlief. Sie
betrachtete mit
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