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Edelweißpiraten

Edelweißpiraten

Titel: Edelweißpiraten
Autoren: Dirk Reinhardt
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könnten, dass sie noch leben und dass von da oben nichts Böses mehr kommt.
    Wir sind nach Ehrenfeld gelaufen. Über die Venloer sind amerikanische Panzer in die Stadt gerollt. Sie waren offen, die Soldaten haben oben gesessen, die Arme lässig übers Geschützrohr gelegt. Als sie uns am Straßenrand gesehen haben, sind ihre Blicke misstrauisch geworden. Kein Wunder, nachdem ihnen wochenlang HJler mit Panzerfäusten entgegengesprungen sind. Ich hab mich unsicher gefühlt. Wenn nur Flint hier wär, hab ich gedacht. Dem würd bestimmt das Richtige einfallen. Der wüsste, wie man mit denen umzugehen hat!
    Wir haben ’ne Zeit lang dagestanden und der Panzerkolonne zugesehen. Es war ein ewig langer Zug, und irgendwie ist mir mit einem Mal alles unwirklich vorgekommen. So lange hatte ich auf diesen Tag gehofft. Auf den Tag, an dem alles vorbei ist, an
dem wir endlich frei sind und wieder durchatmen können. Aber jetzt, wo es so weit war, hab ich mich auf einmal hilflos gefühlt. Ich hab die anderen angesehen, und mir ist klargeworden, dass es ihnen genauso geht. Was sollen wir jetzt tun?, hab ich gedacht. Wo gehören wir hin? Und: Wer sind wir eigentlich?
    Ich frag mich, ob sich irgendwer dafür interessieren wird, was wir getan haben. Wird es überhaupt jemand wissen wollen? Oder war alles umsonst und spielt jetzt schon keine Rolle mehr?
    Heute ist mein 18. Geburtstag. Ich hab den ganzen Tag nicht daran gedacht. Es ist mir eben erst wieder eingefallen.

 
    Der alte Gerlach starb, bevor der Winter zu Ende ging. Spät abends sei es gewesen, sagte die Schwester, schon tief in der Nacht. Er hätte nicht mehr leiden müssen, sei einfach eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht.
    Am Tag nach der Beerdigung besuchte ich ihn auf dem Friedhof. Zuerst stand ich am Grab meines Großvaters und erinnerte mich daran, wie ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Dort drüben war es gewesen, am Grab seines Bruders. Gleich daneben war nun sein eigenes. Ich ging hinüber und betrachtete es. »Josef Gerlach« stand auf dem Stein. Und darunter: »6.   3.   1927–21.   1.   2012«.
    Inzwischen wusste ich auch, warum er mich damals so aufmerksam beobachtet hatte. Er hatte mir einen Brief hinterlassen, in dem er es erklärte. Der kleine Junge, den er und die anderen am Ende des Krieges zu sich genommen hatten, war mein Großvater gewesen. Später war er in eine Pflegefamilie gekommen und hatte die Edelweißpiraten nie wiedergesehen. Vielleicht war das die Geschichte gewesen, die er mir vor seinem Tod hatte erzählen wollen.
    Gerlach jedenfalls hatte den Kleinen nie vergessen und aus der Ferne seinen Lebensweg verfolgt – unaufdringlich, wie es seine Art war. So hatte er nach vielen Jahrzehnten auch von seinem Tod erfahren. Und als mein Großvater in der Nähe seines Bruders auf dem Ehrenfelder Friedhof bestattet wurde, da hatte er mich gesehen und geahnt,dass ich der Enkel seines alten Pflegekindes war. So hatte es angefangen – und so ging es am gleichen Ort zu Ende.
    Während es zu schneien begann, stand ich da und erinnerte mich an Dinge, die der alte Gerlach in sein Tagebuch geschrieben hatte. Vor allem eines ging mir nicht aus dem Kopf. Er hatte es zu Tilly gesagt – an jenem Abend, kurz bevor sie starb. Dass Leute wie sie nichts weiter brauchen als Luft zum Atmen, einen Weg zum Wandern und ein Lied zum Singen. Ich weiß nicht wieso, aber dieser Satz begleitete mich, seit ich ihn gelesen hatte. Vielleicht sollte ich ihn wörtlich nehmen, dachte ich. Nur das richtige Lied – das musste ich noch finden.
    Der Schneefall wurde dichter. Ich zog mir die Kapuze über den Kopf und hockte mich vor das Grab.
    »Weil es so kostbar ist«, sagte ich und musste lächeln. Jetzt tat ich also genau das, was mich damals an ihm so befremdet hatte: Ich redete, obwohl niemand in der Nähe war.
    »Wissen Sie noch? Ich habe versprochen, es Ihnen zu sagen, wenn ich fertig bin. Warum ich es so langsam lese. Das ist die Antwort: Weil es so kostbar ist.«
    Am Tag zuvor war ich ein letztes Mal in seiner Wohnung gewesen. Ich hatte die Vögel geholt, denn ich wollte mein Versprechen halten, mich um sie zu kümmern. Auch die Spieluhr hatte ich mitgenommen. Es schien mir eine gute Idee, sie auf sein Grab zu legen. Ich hatte das Gefühl, es würde ihm gefallen.
    Als ich nach einem Platz für sie suchte, fiel mir auf, dass vor dem Grabstein weiße Blumen lagen. Sie wirkten frisch, als wären sie gerade erst dorthin gelegt worden. War etwa heute schon jemand hier
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