Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Edelweißpiraten

Edelweißpiraten

Titel: Edelweißpiraten
Autoren: Dirk Reinhardt
Vom Netzwerk:
haben mich weiter festgehalten und davongezerrt, bevor einer auf uns aufmerksam wurde.
    Irgendwann hab ich aufgehört, mich zu wehren. Horst war tot, weil er uns gerettet hatte. Es war, als wäre ein Teil von mir dort gestorben.

 
    Alles begann damit, dass ich jemanden nicht gehen ließ. Ob er auch von sich aus geblieben wäre? Wahrscheinlich nicht. Er war zu scheu dafür.
    Es war vor zwei Monaten. Ich stand am Grab meines Großvaters, der kurz zuvor gestorben war. Der Himmel war kahl und grau, überall fielen die letzten Blätter von den Bäumen. Ich stand da und vermisste ihn, wie ich ihn auch jetzt noch vermisse. Ich bin oft zu ihm gegangen – damals. Wenn es etwas gab, womit ich nicht zurechtkam. Er war so gelassen. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen. Egal, was mir auf dem Herzen lag: Wenn ich es mit ihm besprach, hatte ich nach einer Weile das Gefühl, es sei klein und unwichtig und hätte eigentlich gar keine Bedeutung.
    Es wurde allmählich dunkel, ich wollte gehen. Da fiel mir, ein Stück entfernt, vor einem der anderen Gräber, dieser alte Mann auf. Er hatte nichts Besonderes an sich. Aber ich war schon letzte und vorletzte Woche hier gewesen, und jedes Mal hatte ich ihn genau dort an dieser Stelle gesehen. Ich betrachtete ihn genauer und konnte erkennen, dass er die Lippen bewegte, so als spräche er mit jemandem – aber es war niemand in der Nähe. Da war nur der Grabstein vor seinen Füßen.
    Und noch etwas bemerkte ich. In regelmäßigen Abständen sah er zu mir herüber. Die anderen Leute beachtete er nicht. Wenn er den Kopf hob, sah er immer nur zu mir, zuniemandem sonst. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Es war mir unheimlich.
    Nach einiger Zeit wandte er sich ab und ging. Während ich ihm nachsah, hatte ich mit einem Mal das Gefühl, ihn wegen seines Verhaltens zur Rede stellen zu müssen. Normalerweise bin ich nicht so, aber an dem Tag hatte ich dieses Bedürfnis, und bevor es nachließ, war ich ihm schon hinterhergelaufen. Es war ein gutes Stück bis zu dem Grab, vor dem er gestanden hatte, aber da er sehr langsam ging, mit kleinen, vorsichtig tastenden Schritten, war er noch nicht weit gekommen, als ich dort anlangte.
    »Entschuldigen Sie!«, rief ich ihm nach.
    Er blieb stehen und drehte sich um.
    »Entschuldigen Sie«, sagte ich noch einmal. »Könnte es sein, dass wir uns kennen?«
    Er sah mich unsicher an. »Nein. Ich – ich glaube nicht.«
    »Es ist nur, weil – Sie haben andauernd zu mir herübergesehen. Da dachte ich, vielleicht kennen wir uns ja, und ich habe Sie nur nicht erkannt.«
    »Oh!« Was ich sagte, schien ihn verlegen zu machen. »Dir ist das also aufgefallen?«
    »Na ja, was heißt aufgefallen? Es war so ein Gedanke.«
    Er kam zögernd näher. »Ja, du hast recht, ich habe über dich nachgedacht. Ich habe mich gefragt, was so ein junger Mensch wie du wohl hier tut. Immerhin sehe ich dich nun schon zum dritten Mal. Du solltest – ich weiß nicht – Fußball spielen oder so.«
    Das war es also, er hatte sich nur über mich gewundert. Oder gab es da noch etwas anderes? Als ich ihn ansah, wurde ich den Eindruck nicht los, dass er mir nur diehalbe Wahrheit erzählt hatte. Er schaute zur Seite und wandte sich um, als wollte er gehen, tat es dann aber doch nicht. Ein peinliches Schweigen entstand. Bevor es zu lange anhielt, zeigte ich auf das Grab, vor dem wir standen.
    »Ist das – ein Verwandter von Ihnen?«
    »Ja«, sagte er. »Mein Bruder. Heute ist sein 67. Todestag.«
    Ich sah mir den Grabstein genauer an. »Horst Gerlach« stand da. Und darunter: »18.   2.   1925–24.   11.   1944«. Dann fiel es mir ein. Heute war ja der 24. November!
    »Ist er im Krieg gefallen?«, fragte ich.
    »Nein. Er ist ermordet worden.«
    Es hörte sich seltsam an, wie er das sagte. Ich überlegte, ob nicht im Krieg irgendwie alle »ermordet« worden waren – jedenfalls auf die eine oder andere Weise.
    »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er, als ich nicht reagierte. »Aber vielleicht würde sie dich interessieren.
Gerade dich!
«
    Ich hörte nur mit halbem Ohr hin. Vor dem Stein seines Bruders standen drei rote Grablichter, die alle brannten, und daneben lagen Blumen. Weiße Blumen.
    »Wenn du sie hören willst, erzähle ich sie dir«, fuhr er fort. »Was meinst du? Du könntest mich besuchen.«
    Ich stutzte. Sein Vorschlag kam überraschend. Wir kannten uns nicht. Warum bot er mir an, ihn zu besuchen? Ich muss ihn ziemlich erstaunt angesehen haben, denn er zuckte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher