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Ed King

Ed King

Titel: Ed King
Autoren: David Guterson
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gewesen wäre, wo er eine Büronische gleich neben dem Fenster hatte. Walter fand dort auf verschiedene Weise Trost – im alltäglichen Umgang mit seinen Kollegen, in schick gekleideten Mitarbeiterinnen und nicht zuletzt in den höheren Sphären der Versicherungsstatistik. Die Tatsache, dass Zahlen allein aufgrund der Menge an Einzelbeispielen die Kraft der Vorsehung erlangten und Aussagen über die Zukunft erlaubten, erschien Walter wie ein esoterisches Geheimnis oder, wie er es insgeheim nannte, eine Art Mysterium. Zugegeben, es war nicht Kunst oder Philosophie, aber es war gleichwohl tiefgründig, was kaum jemand verstand.
    Als er Diane das erste Mal sah, wirkte sie auf ihn nicht im Entferntesten wie ein Au-pair. Sie sah eher aus wie ein Kind, unfertig, ein junges Ding, mit einer einfachen Frisur, ohne Schmuck oder Make-up, gerade so wie die jüngere Schwester eines Mädchens, mit dem er vor langer Zeit auf der Highschool ausgegangen war. Ihre zwei abgewetzten Lederkoffer, doppelt gesichert mit Riemen und Schlössern und übersät mit angelaufenen Nieten, die aussahen, als hätte man sie mit einem Maschinengewehr hineingeschossen, standen wartend auf der Veranda. Auf dem Schloss des größeren Koffers stand ein Transistorradio mit einem elfenbeinfarbenen Plastikgriff und elfenbeinfarbenen Knöpfen. Als er die vollgepackten Koffer in den Lincoln wuchtete, kam er sich wie ein Gepäckträger vor, aber auch wie in den Flitterwochen, während Diane, in Jeans, ihre Gasteltern noch einmal umarmte und sich mit ihrem entwaffnenden Akzent verabschiedete. »Wunderbar«, hörte er sie sagen. »Großartig.« Dann hielt er ihr die Wagentür auf, und als sie sich strahlend hineinbeugte, um den beiden Kindern aufdem Rücksitz hallo zu sagen, blickte er verstohlen in die Spalte, die sich zwischen dem Bund ihrer Jeans und der Verlängerung ihres Rückens auftat, auf den dunklen Schatten, den einfachen weißen Slip und den rötlichen Flaum entlang des Steißbeins.
    Es war so – man konnte es nicht wissen; konnte es nicht vorhersagen. Nicht einmal ein Versicherungsstatistiker wusste, was passieren würde. Natürlich, es gab Trends, die sich in Tabellen darstellen ließen, aber individuelle Schicksale waren immer undurchsichtig. In Walters Fall hieß das, seine Frau war außer Haus, während er, gegen alle Wahrscheinlichkeit, an einem strahlenden Sommermorgen dieses verlockende Himmelsgeschenk in Empfang nahm, um es gleich gegenüber seinem Schlafzimmer einzuquartieren. Wie war es zu diesem gefährlichen, aber glücklichen Zufall gekommen? Womit hatte er dieses Wagnis verdient? In Gedanken mit diesen Fragen und ihrer Unterwäsche beschäftigt, wählte er die kurvenreiche und reizvollere Route über den Lake Washington Boulevard, von der er sich einen vagen Gewinn erhoffte. Zugleich beschloss er, mit allen drei Kindern auf die gerade in Seattle eröffnete Weltausstellung zu gehen, weil er sich dort wie ein Grande aufführen konnte, der Zuckerwatte und andere großzügige Gaben verteilte, bevor er Diane mit Greenwood bekannt machte. In diesem Vorsatz fuhr er an Sportbooten und gewaltigen Bäumen vorbei, während Diane auf dem Beifahrersitz, die Hände in ihrem Schoß gefaltet, Fragen beantwortete und geschickt und mühelos das Zutrauen seines Nachwuchses gewann, sodass er unwillkürlich an die kesse, göttliche Hayley Mills denken musste, jenes strahlende, schmollmundige, unnachahmliche Starlet, das im Matrosenanzug und mit einem verwegenen Kussmund auf dem Cover von Life abgebildet war. Tatsächlich war Diane, die unbefangen mit den Kindern plauderte, sich aber mit einem ironischen Unterton geradewegs an ihn zu richten schien, das perfekte Double für das sechzehnjährige Disney-Darling, von dem jüngst sämtliche Zeitungen und Magazine berichtet hatten, weil sie die Hauptrolle in Lolita abgelehnt hatte. Ein Leckerbissen, ein Nymphchen in Rüschensocken und Turnschuhen, das erste Date an der Highschool, mit dem man sich zu Spaziergängen auf der Strandpromenade und zu einer Limo verabredet, und gleichzeitig aufdem Höhepunkt jugendlicher sexueller Ausstrahlung, die selbst ein Vierjähriger spürt. Kein Wunder also, dass Barry, angetrieben vom Urverlangen eines Vierjährigen, sich zum Vordersitz lehnte, den Kopf wie ein Raffael-Engelchen auf die Hände gestützt, um in Dianes verführerischer Aura zu schwelgen. Das Objekt, an dem sich die frisch geweckte Begierde seines Sohnes entzündete, drückte zwei Finger gegen seine knochigen
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