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Ed King

Ed King

Titel: Ed King
Autoren: David Guterson
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erklärte, was eine Glockenkurve war, und ihr außerdem den Zentralen Grenzwertsatz zu erläutern suchte, wobei er sich bemühte, nicht zu sehr nach Versicherungsstatistiker zu klingen. »Das ist so«, sagte er und rückte näher an sie heran. »Die Summe der unabhängigen Zufallsvariablen, die auf die Pennys einwirken, folgt einer stabilen Verteilung.«
    »Wie interessant«, erwiderte sie, amüsiert über seine Erklärungsbemühungen und seinen Enthusiasmus nachahmend, während sie geistesabwesend ihren Pferdeschwanz nach hinten warf. »Was Sie alles wissen.«
    Sie kannten sich erst seit sechs Stunden, und schon jetzt wusste er nicht mehr, wie er es aushalten sollte.
    Walter genügte ein knappes Jahr Ehe, um mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen zu können, was seine Frau Lydia im nächsten Moment sagen würde. Wenn die McGuire-Schwestern in der Ed Sullivan Show auftraten: »Phyllis hat zugenommen«; wenn er fragte, was sie aus dem A & P brauche: »Nichts«; wenn er ihr im Badezimmer einen Kuss gab: »Ich muss mich jetzt anziehen«; wenn er ihr eine gute Nacht wünschte: »Wollen wir’s hoffen.« Walter war sich ziemlich sicher, dass er in sie hineinsehen konnte, und es traf ihn deshalb unvorbereitet, als er Lydia an einem Montagmorgen nicht wecken konnte. Es stellte sich heraus, dass sie ins Krankenhaus musste, nachdem sie eine Überdosis verschreibungspflichtiger Schlaftabletten genommen hatte, von denen Walter bis dahin nicht einmal gewusst hatte. Ein Psychiater sagte, sie müsse eine Zeit lang von allen häuslichen Arbeiten und Pflichten befreit werden.
    Walter war schockiert, Lydia in einem Krankenhaushemd zu sehen,verhärmt, ohne Make-up, ohne Strümpfe, ihrer Würde beraubt, aber es war nicht zu ändern, zumindest konnte er nichts daran ändern. In diesem Stadium gehörte sie den Ärzten, die, wie er glaubte, seltsame Dinge mit ihr anstellten. Sie kritzelte Bilder, knetete mit Ton, nahm täglich an »Gruppensitzungen« teil und spielte Shuffleboard. Wenn Walter sie auf der Station besuchte, hatte er das Gefühl, von ihrer Welt ausgeschlossen zu sein, nicht nur aufgrund ihrer seelischen Erkrankung, sondern auch aufgrund der ihr verordneten Therapie. Er besuchte sie jeden Tag und fand sie immer in dem gleichen Zustand vor – vollgepumpt mit Medikamenten und unfähig, mit ihm zu reden und ihm ihr Problem zu erklären. Sie war zwar kein Zombie, aber sie war auch nicht wirklich da, und er wusste nicht, wie er sich in ihrer Nähe verhalten sollte oder welche tiefere Bedeutung hinter ihrer Krankheit steckte. Genauso wenig konnte er sagen, wann und warum sie sich in sich selbst zurückgezogen hatte. Von jetzt auf gleich hatte sie sich aufgegeben – Lydia, die immer so stark und zuversichtlich gewesen war; Lydia, die ihn in den drei Jahren, die er nach dem Studium an der Iowa State University in Chicago verbracht hatte, in ihre Arme geschlossen hatte. Für ihn war sie in dieser Zeit eine Art Sabrina des kleinen Mannes gewesen, weil sie so viel Ähnlichkeit mit dem britischen Pin-up hatte, die sich mit Fidel Castro herumtrieb, auch wenn seine Sabrina norwegische Wurzeln hatte, aus dem Mittleren Westen stammte und sagte, was sie dachte. Er hatte sie, ohne zu zögern, geheiratet. Dann war sie schwanger geworden, und ihre Pin-up-Ausstrahlung war für immer dahin. Seit Barrys Geburt kämpfte sie mit ihren Pfunden, auf eine Weise, die sie beide an den Rand des Wahnsinns brachte. Lydias Diäten glichen einer ständigen Achterbahnfahrt, rauf und runter, rauf und runter, was Walter noch hingenommen hätte, wenn sie nicht ständig davon hätte reden müssen. Er schämte sich für seinen Missmut, wenn sie von ihren Kalorien anfing, aber sie verbiss sich so sehr in das Thema Essen, dass sie zuletzt von nichts anderem mehr reden konnte. Was machte es schon, wenn ihr Hintern zu breit war, um es auf einen Pin-up-Kalender zu schaffen – musste sie sich deshalb zu Tode hungern? Auch er hatte inzwischen zugelegt, aber ließ er sich deswegen graue Haare wachsen? Wusste sie denn nicht, dass er sie liebte, ganz egal, wieviel sie wog? Anscheinend nicht. Offenbar hatte er es ihr nicht deutlich genug gezeigt. Und so stand sie niedergeschlagen vor dem Spiegel, zählte Kalorien und legte sich eine neue Garderobe zu. Lydia sorgte sich so sehr um die Masse ihres Hinterteils und wie es in Kleidern und Hosen aussah, dass er manchmal mitten in der Nacht aus dem Schlaf schreckte, weil sie Sit-ups im Bett veranstaltete und die Sprungfedern
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