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Ed King

Ed King

Titel: Ed King
Autoren: David Guterson
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konnte er vor lauter Schmachten und quälenden Schuldgefühlen, den Bildern in seinem Kopf und dem Gefühl, über sich selbst lachen zu müssen, nicht einschlafen. »Ich bin ein Hornochse«, dachte er, »vierunddreißig und ein Hornochse. Liege mit einem T-Shirt und Boxershorts im Bett und verzehre mich nach einem Mädchen, das Zeichentrickfilme liebt und die Billboard-Top-40 mitsingt.«
    Als Diane an einem Sonntag mit den Kindern im Park war, sah er sich vorsichtig in ihrem Zimmer um. Auf dem Schreibtisch lag ein Blatt aus einem linierten Schulheft, das mit »Lieber Club« überschrieben war. Darunter stand: »He Jimmie, du altes Schlitzohr, denk auch mal an das Au-pair. Das Gute ist, ich war auf der Weltausstellung.« Walter überflog den Brief nach weiteren Hinweisen auf »Club«. Er vermutete dahinter einen dieser kindischen englischen Spitznamen, in diesem Fall wahrscheinlich für einen Verehrer mit Hasenzähnen, der eigentlich Rupert oder Lionel oder Percy hieß. Dann aber las er: »Ich habe leider auch nichts von John oder Mum oder sonst irgendjemandem in Essex gehört«, woraus er schloss, dass Club Dianes Bruder war. Das war beruhigend, denn ein Bruder konnte ihm nicht in die Quere kommen.
    Obwohl niemand im Haus war, öffnete Walter ganz vorsichtig Dianes Schubladen. Darin waren hüfthohe Slips und weiße Mieder, aber am besten gefiel ihm der mokkafarbene Badeanzug mit dem durchgehenden Reißverschluss im Rücken, einem Brustbesatz aus Tulpenblütenblättern, einer festen Einlage im Schritt und einem Beinausschnitt wie bei Jungenunterhosen. Walter hielt ihn sich unter die Nase – er roch nach Chlor – und spielte mit dem Häkchenverschluss. Er drückte auf den Plastikstab zwischen den Körbchen, fuhr mit dem Finger den perforierten Futterstoff entlang und streichelte die Metallspangen an den Schulterträgern, bevor er ihn, beschämt, an seinen Platz zurücklegte. Einen Augenblick überlegte er, noch einen Blick in den Wandschrank zu werfen, besann sich aber und floh aus dem Zimmer.
    Am letzten Freitag im Juni fuhr Walter mit den Kindern und Diane(mit dem Segen von Lydias Therapeuten, der Walter versicherte, es spräche nichts dagegen) über das Wochenende nach San Juan Island, wo er ein Holzhaus mit durchhängendem Dach besaß, das eingestandenermaßen ein Fass ohne Boden und eine Last war. Aufgrund der Südlage und des Windes vom Meer war es praktisch unmöglich, die immer neuen Lecks und Ritzen abzudichten oder das Verrotten der Fensterrahmen aufzuhalten, die im günstigsten Fall einmal im Jahr mit einer dicken Schicht Schutzfarbe hätten gestrichen werden müssen. Ganz zu schweigen vom Unkraut zwischen den Steinfliesen, dem trägen Abwassersystem, dem dringend tiefer auszuschachtenden Brunnen, dem sich absenkenden Fundament und den Schlaglöchern in der Auffahrt. Von Anfang an hatte Lydia ihn ermuntert, in der Einfachheit des Hauses seinen eigentlichen Reiz zu sehen und darauf zu verzichten, es perfekt herzurichten, aber für ihn war ein Tag ohne Arbeiten am Haus ein Tag, der die Wertminderung ihrer Investition beschleunigte. Er konnte das Haus auf keinen Fall sich selbst überlassen, was zur Folge hatte, dass er die wenigste Zeit auf der Insel mit einem Bier in der Hand im Liegestuhl verbrachte. Meistens war er unterwegs zum Eisenwarenladen oder werkelte halbherzig am Haus herum. An diesem Wochenende jedoch tröstete und stimulierte ihn Diane in ihrem mokkafarbenen Badeanzug, die mit den Kindern am Strand herumtollte.
    Samstagnachmittag half Diane ihm, den Lattenzaun zu streichen und Unkraut in Lydias Blumenbeeten zu zupfen. Lydia war keine leidenschaftliche Gärtnerin, aber jedes Frühjahr setzte sie eine Kiste Blumenzwiebeln, die bis zum Juni von dichtem Gestrüpp überwuchert waren. Diane machte sich unverdrossen an die Arbeit, bekleidet mit einer abgeschnittenen Jeans, einem hellblauen T-Shirt mit der Aufschrift DEWEY WEBER SURFBOARDS und Turnschuhen ohne Socken. Um fünf verschwand sie im Badezimmer und erschien eine Weile später mit nassen, gekämmten Haaren, einem karierten Strandkleid und nackten Füßen. Walter, im gestreiften Polohemd, das er zum Streichen immer trug, unrasiert, sonnenverbrannt und eine billige Zigarre rauchend – ein Aufzug, der einen männlichen sommerlichen Charme ausstrahlen sollte –, sah ihr vom Grill aus zu, wie sie sich ans Verandageländer lehnte und aufs Wasser hinaussah. »Ich sollte mich rasieren und etwas Frisches anziehen«, dachte er.
    Das tat er auch.
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