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Durch Zeit und Raum

Durch Zeit und Raum

Titel: Durch Zeit und Raum
Autoren: Madeleine L'Engle
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Ich glaube, es ist das Weiße Haus.«
    Herr Murry eilte an den Apparat. »Oh, Mr. President! Guten Abend!« Er lächelte; aber dann sah Meg, wie ihm das Lächeln auf den Lippen erstarb und dem Ausdruck völliger Leere Platz machte. Ja, dachte Meg, das ist es: völlige Leere.
    Die Zwillinge unterbrachen ihr Gespräch. Frau Murry verharrte unbeweglich, den Holzlöffel über der Pfanne mit der Bratensoße. Frau O’Keefe starrte mißmutig ins Feuer. Charles Wallace schien sich ganz auf das Modell zu konzentrieren.
    Vater hört bloß zu! dachte Meg. Und der Präsident redet und redet.
    Unvermittelt fröstelte sie. Eben noch hatten sie alle fröhlich miteinander geplaudert, und auf einmal waren sie verstummt, mitten in der Bewegung erstarrt. Vater preßte den Hörer ans Ohr; Meg konnte kein Wort verstehen. Sein Gesicht war jetzt todernst, aus den Lachfältchen waren Sorgenfalten geworden. Gegen die Scheiben peitschte der Regen.
    Um diese Jahreszeit sollte es längst schneien, dachte Meg. Mit dem Wetter stimmt etwas nicht. Überhaupt: da stimmt etwas nicht.
    Herr Murry lauschte weiterhin ohne ein eigenes Wort, und sein Schweigen wirkte ansteckend. Sandy hatte die Bratröhre geöffnet, um den Truthahn zu übergießen und heimlich einen Bissen von der Fülle zu naschen; aber jetzt blieb er, halb gebückt, stehen und beobachtete besorgt seinen Vater. Frau Murry hatte sich vom Herd abgewandt und strich sich abwesend mit einer Hand durchs Haar, das an den Schläfen schon ein wenig grau wurde. Meg hatte die Lade herausgezogen und hielt den Rührbesen umklammert.
    Es war keineswegs ungewöhnlich, daß Herr Murry mit dem Weißen Haus telefonierte. Im Laufe der Jahre hatte man ihn wiederholt zu Fragen der Raumfahrt oder physikalischer Phänomene konsultiert; manche dieser Gespräche waren von ziemlicher Bedeutung gewesen, einige sogar unangenehm und folgenschwer.
    Aber diesmal, das spürte Meg, stand mehr auf dem Spiel; es wurde geradezu kalt im Zimmer, und die Lichter schienen zu erblassen.
    »Ja, Mr. President. Ich habe verstanden«, sagte Herr Murry schließlich. »Vielen Dank für Ihren Anruf.« Er legte den Hörer auf die Gabel, als sei er aus Blei.
    Dennys, immer noch mit dem Silberbesteck in der Hand, fragte: »Was hat er gesagt?«
    Vater schüttelte bloß stumm den Kopf.
    Sandy ließ die Ofentüre zuschlagen. »Vater?«
    Und: »Vater!« rief auch Meg. »Wir wissen, daß etwas passiert ist. Du mußt es uns sagen – bitte!«
    »Es wird Krieg geben.« Seine Stimme war kalt und kam wie aus weiter Ferne.
    Meg legte schützend die Hand über das Kind in ihrem Bauch. »Einen – einen Atomkrieg?«
    Alle rückten enger zusammen. Frau Murry streckte einen Arm nach Calvins Mutter aus, aber Frau O’Keefe schloß die Augen und wandte sich unwirsch ab.
    »Mad Dog Branzillo?« fragte Meg.
    »Ja. Der Präsident fürchtet, daß Branzillo diesmal seine Drohungen wahr machen wird, und dann bleibt uns gar keine andere Wahl als der Einsatz von Abwehrraketen.«
    »Wie kommt nur ein so kleines Land zu Atomwaffen?« rief Sandy.
    »Vespugia ist nicht kleiner als Israel, und Branzillo hat mächtige Freunde.«
    »Und er ist wirklich in der Lage, zuzuschlagen?«
    Herr Murry nickte.
    »Alarmstufe Rot?« fragte Sandy.
    »Ja. Der Präsident sagt zwar, es bleiben uns noch vierundzwanzig Stunden, um die Tragödie abzuwenden, aber er macht sich kaum noch Hoffnungen.«
    Aus Megs Gesicht war alles Blut gewichen. »Das ist das Ende. Der Weltuntergang.« Sie wandte sich hilfesuchend an Charles Wallace, aber der wirkte fast so verschlossen wie Frau O’Keefe. Selbst Charles Wallace, der doch immer für sie da war, hatte sie nun verlassen. Und Calvin befand sich auf der anderen Seite des Ozeans. In grenzenloser Angst starrte sie ihren Vater an und flüsterte noch einmal: »Die Welt geht unter.«
    Er widersprach ihr nicht.
    Die alte Frau vor dem Kamin öffnete langsam die Augen und verzog zornig den Mund. »Wie denn? Was denn? Der Präsident der Vereinigten Staaten? Und ruft ausgerechnet hier an? Wollt ihr mich zum Narren halten?« Ihr furchtsamer Blick verriet sie nichtsdestoweniger.
    »Das ist kein dummer Scherz«, versuchte Frau Murry zu erklären. »Das Weiße Haus zieht meinen Mann bereits seit Jahren zu Beratungen heran.«
    »Woher soll ich wissen, daß er mit der Politik zu tun hat?« Sie warf Herrn Murry einen bösen Blick zu.
    »Hat er auch nicht. Er ist Physiker. Aber jeder Präsident braucht hin und wieder den Rat eines Wissenschaftlers; und er sucht
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