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Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Titel: Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort
Autoren: Jostein Gaarder
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sagte:
    »Jetzt sitzen wir bei dir wie damals, als du ein kleines Baby warst.«
    »Warum habt ihr plötzlich solche Angst, der Vogel könnte das Nest verlassen?«
    Sie mußte sie fast aus dem Zimmer verjagen. Als sie etwas später erwachte, saß Ariel auf der Fensterbank.
    »Du siehst so schön aus, wenn du schläfst«, sagte er.
    »Aber ich will nicht reden. Ich will nach draußen!«
    »Schaffst du das?«
    »Na, und wie! Ich will noch mal zum Fluß, ehe das ganze Eis wegschmilzt.«
    Ariel seufzte.
    »Das ist soviel Nervkram mit deinen vielen Kleidern.«
    »Aber ich will nach draußen«, beharrte sie.
    »Na gut, ein kleiner Ausflug.«
    Er half, die Winterkleider aus dem Schrank zu holen.
    »Heute nacht nehmen wir den Schlitten«, befahl Cecilie.
    Ariel lächelte.
    »Schlitten fahr ich dann zum allerersten Mal.«
    »In diesem Jahr jedenfalls«, korrigierte Cecilie.
    Als sie sich angezogen hatte, standen sie ein Weilchen nebeneinander vor dem Regal und sahen sich die schönen Halbedelsteine an.
    »Die stammen fast aus der ganzen Welt. Jeder Stein ist ein kleines Bruchstück des Erdballs«, sagte sie.
    »>Ein kleines Bruchstück des Erdballs<«, wiederholte Ariel.
    Er zeigte auf den Schmetterling, den Cecilie von Marianne bekommen hatte.
    »Aber der doch nicht?«
    Sie gab keine Antwort, sondern steckte den Schmetterling in ihre Anoraktasche.
    »Jetzt soll er in die Welt hinausfliegen«, sagte sie.
    »>In die Welt hinausfliegen<«, äffte Ariel nach. »Jetzt soll er in die Welt hinausfliegen.<«
    »Erst mußt du nachsehen, ob alle schlafen.«
    Ariel fragte mit listigem Blick:
    »Sollen wir das zusammen machen?«
    Sie gingen auf den Flur und stellten den Schlitten bei der Treppe ab. Dann schlichen sie sich ins Elternschlafzimmer. Die Tür war offen. Sie blieben gleich hinter der Türschwelle nebeneinander stehen. Cecilie hielt sich einen Finger an die Lippen.
    »Pst«, flüsterte sie.
    Im Zimmer war es fast dunkel, nur durch das Fenster fiel ein wenig Licht von der Lampe über der Scheunentür. Die Eltern lagen dicht aneinandergeschmiegt.
    »Findest du nicht, daß sie wie kleine Kinder aussehen, wenn sie schlafen?« flüsterte Ariel.
    Cecilie nickte.
    »Ich wüßte ja gern, wovon sie träumen ...«
    Sie gingen wieder auf den Flur und schauten in Lasses Zimmer. Auf dem Boden lag eine ganze Wagenladung Legosteine. Cecilie mußte ihre Füße vorsichtig setzen, um nicht draufzutreten. Ariel hob einfach ein paar Zentimeter vom Boden ab.
    Sie spürte, sie hatte ihren kleinen Bruder so lieb, daß sie sich ein paar Tränen aus den Augen wischen mußte.
    War es nicht seltsam, daß man Tränen in den Augen hatte, weil man jemanden liebte? In den letzten Wochen war sie so wenig mit Lasse zusammengewesen, daß er ihr fast wie ein fremdes Kind erschienen war.
    Sie nahmen den Schlitten und schlichen die Treppe hinunter.
    »Meine Großeltern wohnen in dem kleinen Haus nebenan«, flüsterte Cecilie.
    Der Engel Ariel nickte.
    »Aber jetzt schläft deine Großmutter auf dem Wohnzimmersofa.«
    Sie schauten hinein, und richtig: Da schlief Großmutter, vollständig angezogen und nur mit einer dünnen Decke zugedeckt. Cecilie wußte, daß sie in letzter Zeit öfter auf dem Sofa übernachtet hatte. Und zwar, weil sie Großvaters Schnarchen nicht ertragen konnte, hatte Cecilies Mutter gesagt. Großmutter selbst sagte, sie müsse Mama doch bei den Spritzen helfen.
    »Sie ist die beste Großmutter auf der Welt!« flüsterte Cecilie.
    »Das weiß ich«, antwortete Ariel.
    »Nicht nur, weil sie meine Großmutter ist. Sie ist wirklich die beste Großmutter auf der Welt.«
    »>Beste Großmutter<«, äffte Ariel sie nach. »>Die beste Großmutter auf der Welt.<«
    Sie traten auf die Vordertreppe und schlossen die Haustür hinter sich. Da standen sie nun in der kalten Winternacht. Der Himmel wimmelte dermaßen von funkelnden Sternen, daß die Nacht zu einem Achteltag wurde. Es schien kein Mond, deshalb waren die Sterne besonders klar zu sehen. Nur, wenn es ganz dunkel ist, nimmt die Dunkelheit schließlich sämtliche Strahlen auf.
    Cecilie lief über den Hof und zog den Schlitten hinter sich her. Großmutter hatte ein dickes Seil dran befestigt. Ihre Mutter hatte gemeint, das habe doch keine Eile. Aber Cecilie und Großmutter hatten es in aller Heimlichkeit erledigt.
    Vom Hof aus führten lange sanfte Hänge fast bis zum Flußufer hinab. Cecilie setzte sich sofort auf den Schlitten. Als sie sich abstieß, sah sie sich zu Ariel um und rief:
    »Wenn du
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