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Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Titel: Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort
Autoren: Jostein Gaarder
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nickte.
    Die Eltern gingen aus dem Zimmer. Großmutter nahm Cecilies Hände.
    »Weißt du noch, wie du über Odin erzählt hast?« fragte Cecilie.
    »Natürlich weiß ich das noch.«
    »Er hatte auf jeder Schulter einen Raben sitzen. Und jeden Morgen flogen die Raben in die Welt und sahen sich um. Danach flogen sie zu Odin zurück und erzählten, was sie gesehen hatten .«
    »Jetzt bist du es, die davon erzählt«, sagte Großmutter.
    Als Cecilie schwieg, fügte sie hinzu:
    »Aber in gewisser Hinsicht war es doch Odin selbst, der durch die Welt flatterte. Obwohl er in aller Ruhe auf seinem Hochsitz thronte, konnte er auf den Flügeln der Raben um die Welt fliegen. Raben sehen ja auch sehr gut .«
    Cecilie fiel ihr ins Wort:
    »Das wollte ich doch gerade sagen ...«
    »Was denn?«
    »Ich wünschte, ich hätte zwei solche Raben. Oder wenigstens wär ich gern einer von ihnen.«
    Großmutter drückte Cecilies Hände ein bißchen fester.
    »Darüber brauchen wir jetzt aber nicht zu sprechen.«
    »Ich vergesse so langsam alles, was du mir erzählt hast«, sagte Cecilie.
    »Ich finde, du weißt das noch sehr gut.«
    »Hast du gesagt, daß wir traurig werden, wenn etwas schön ist? Oder daß wir schön werden, wenn etwas traurig ist?«
    Darauf gab Großmutter keine Antwort, sie hielt einfach Cecilies Handgelenke fest und blickte ihr in die Augen.
    »Unter meinem Bett liegt ein Notizbuch«, sagte Cecilie. »Holst du es mal vor?«
    Großmutter ließ ihre Hand los, bückte sich und hob das chinesische Notizbuch auf. Sie entdeckte auch den schwarzen Filzstift.
    »Kannst du etwas für mich aufschreiben?« bat Cecilie.
    Jetzt ließ Großmutter auch ihre andere Hand los, und Cecilie diktierte:
    »Wir sehen alles durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort. Manchmal können wir durch den Spiegel schauen und ein wenig von dem entdecken, was sich auf der anderen Seite befindet. Aber wenn wir den Spiegel ganz sauber wischten, würden wir viel mehr sehen. Nur könnten wir uns dann nicht mehr selbst erkennen .«
    Großmutter blickte vom Notizbuch auf.
    »War das ein tiefer Gedanke?« fragte Cecilie.
    Großmutter nickte, dann liefen ihr ein paar Tränen über die Wangen.
    »Weinst du?« fragte Cecilie.
    »Ja, jetzt weine ich, mein Kind.«
    »Weil es so schön ist, oder weil es so traurig ist?«
    »Beides.«
    »Das war aber noch nicht alles.«
    »Sprich nur weiter!«
    »Wenn ich etwas zeichnen wollte und wüßte, daß meine Zeichnung am Ende lebendig würde, würde ich es nicht wagen, auch nur einen einzigen Strich zu ziehen. Ich würde nie wagen, etwas Leben zu geben, das sich nicht gegen alle möglichen eifrigen Buntstifte wehren könnte .«
    Es wurde ganz still im Schlafzimmer. Auch im übrigen Haus herrschte Stille.
    »Was meinst du?« fragte Cecilie.
    »Sehr schön .«
    »Schreibst du noch weiter?«
    Wieder weinte Großmutter. Dann nickte sie, und Cecilie diktierte:
    »Schöpfung und Himmel sind ein so großes Mysterium, daß weder die Menschen auf der Erde noch die Engel im Himmel fassen können. Aber etwas im Himmelsraum stimmt nicht. Mit der ganzen großen Zeichnung scheint etwas schiefgegangen zu sein.«
    Sie blickte auf:
    »Jetzt kommt nur noch ganz wenig.«
    Wieder nickte Großmutter, und Cecilie sagte:
    »Alle Sterne fallen irgendwann einmal. Aber ein Stern ist doch nur ein kleiner Funke des großen Feuers am Himmel.«

E ines Nachmittags wurde Cecilie von der Amsel geweckt, die draußen vor dem Fenster sang. Diesmal saß Cecilies Mutter am Bett.
    »Warum steht das Fenster offen?« fragte Cecilie. »Draußen ist es so schön mild, fast wie im Frühling.« »Liegt denn kein Schnee mehr?«
    »Doch, noch genug.«
    »Und gibt es Eis auf dem Fluß?«
    Ihre Mutter nickte.
    »Aber es ist nicht mehr sicher.«
    Cecilie dachte an Ariel. Bei seinem letzten Besuch war er so feierlich gewesen. War es deshalb, weil er die letzten himmlischen Geheimnisse verraten hatte?
    Jetzt saß immer jemand bei ihr. Eines Abends hatte Cecilie gebeten, über Nacht allein gelassen zu werden.
    »Einer von uns sitzt immer hier«, versicherte ihr Vater. »Aber warum denn?«
    Als sie keine Antwort bekam, sagte sie:
    »Ich kann doch klingeln, wenn ich was brauche.«
    Ihr Vater strich ihr über die Haare.
    »Aber vielleicht schaffst du’s ja nicht.«
    »Dann schicke ich einen Engel, der euch weckt.«
    Die Eltern tauschten einen Blick. Cecilie fragte:
    »Ihr glaubt doch wohl nicht, ich will von hier weglaufen?«
    Ihr Vater schüttelte nur den Kopf, Cecilies Mutter
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