Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
Vom Netzwerk:
Kiste.
    Sag’s du ihm, dachte sie und versuchte die Tasche der Tante mit ihrem Blick zu becircen: Sag du ihm, dass er Vater wird, bitte!
    Er schaute die Tasche an und legte sie wieder zurück, als hätte er überhaupt nicht erkannt, was er da gerade in den Händen gehalten hatte.
    »Verzeihung, liebe Tante, er weiß es nicht«, flüsterte sie fast unhörbar.
    »Was?« fragte er.
    »Nichts, hab nur laut gedacht.«
    Jetzt nahm er ein Exemplar von Dostojewskis Weiße Nächte, das noch uneingepackt in einem Regal lag. Er las Turgenjews Eingangszitat vor: »Vielleicht erschuf ihn die Natur, damit, ob auch ein Weilchen nur, Er deinem Herzen nahe stände?« Dann fragte er: »Weißt du noch?« und sie nickte.
    Natürlich wusste sie noch, wie es gewesen war in der Buchhandlung. Und natürlich wusste er, dass sie es noch wusste.
    »Vier Nächte und ein Morgen«, sagte er dann. So lange hatte ihre erste Begegnung gedauert, bis es schwierig wurde. Nur vier Nächte. Und sie wusste immer noch nicht, was passiert war.
    »O mein Gott! Eine ganze Stunde der Seligkeit! Ist das etwa wenig, selbst für ein ganzes Menschenleben?« las er weiter, »der letzte Satz.«
    Vielleicht waren vier Nächte Seligkeit gar nicht einmal so wenig.
    Und unserer? Wie lautet unser letzter Satz? wollte sie fragen. Aber sie fragte nicht.
    »Kennst du eigentlich den letzten Satz unseres Buches?« fragte er.
    »Im Jagdgewehr? «
    Er nickte.
    »Es gibt zwei letzte Sätze. In Saikos Brief: Dass sie dank seiner Liebe glücklicher als jeder andere Mensch gewesen sei.«
    »Und der zweite letzte Satz?«
    »Kennst du ihn nicht?« fragte sie.
    »Ich erinnere mich nicht so genau. War da nicht von einem weißen Flussbett die Rede?«
    »Misugis weißes Flussbett. Wahrscheinlich war sie weiß – seine Einsamkeit, weiß wie der Tod.«
    Tom schaute sie an, wie Misugi vielleicht in diesem Moment geschaut hätte. Dann klappte er das Buch zu: »Weißt du, wer vorhin im Taxi an mir vorbeigefahren ist? Alison.«
    »Ist sie wieder da? Wusste ich gar nicht. War sie allein?«
    »Warum fragst du?«
    »Weil sie«, sie zögerte, »weil sie glaubte, eine Doppelgängerin zu haben.«
    »Eine Doppelgängerin?«
    Was redete sie da? Es gab einen Satz zu sagen. Einen einzigen Satz. Und der war klar und einfach. Und anscheinend der schwerste von allen.
    Das Telefon klingelte.
     
    »Fritz?«
    »Alison, wie geht es dir?«
    »Ich stehe gerade vor Victors ..., vor unserem Haus, und ich wollte dir nur sagen, dass ich da jetzt reingehe, weil ich Angst habe, wieder zu verschwinden, wenn ich das tue.«
    »Ist er denn wieder aufgetaucht?«
    »Es brennt Licht, die Fenster sind offen.«
    »Viel Glück«, sagte sie, »du verschwindest nicht. Du bist ja gerade erst wieder aufgetaucht. Keine Sorge! Und wenn du willst, warte ich hier auf dich.«
    »Danke«, sagte Alison und legte auf.
     
    Heute würde sie es ihm also nicht mehr sagen. Schlagartig überfiel sie eine große Müdigkeit. Sie gähnte, setzte sich in einender Sessel und schaute Tom zu, der wieder in Dostojewski blätterte.
    »Hat Dostojewski nicht auch ein Buch über einen Doppelgänger geschrieben?« fragte er.
    Genau, dachte sie erschöpft, lass uns über Bücher plaudern, während ich auf Alison warte.
    »Da verdoppelt sich ein kleiner Beamter, ein Psychopath. Er verdoppelt sich zu einem erfolgreichen Gegenspieler. Darum geht es bei Alison sicher nicht«, sagte sie und musste gähnen. »Ich bin müde.«
    »Soll ich gehen?« fragte er und legte die Weißen Nächte zur Seite.
    Nein, dachte sie, nein, auf keinen Fall. Wenn du jetzt gehst, dann sage ich es dir nie.
    Sie nickte.
    Er gab ihr einen Kuss: »Sollen wir heute Abend essen gehen? Ein zweiter Versuch?«
    Sie nickte wieder, und er ging. Sie hatte es ihm nicht gesagt. Er hätte es wahrscheinlich sogar hören können, so wie er heute gewesen war, aber sie hatte es ihm nicht sagen können. Und jetzt war sie so müde wie schon lange nicht mehr. Sie schloss den Laden ab und sank aufs Sofa. Sie war nicht müde, weil sie zu lange gelesen oder zu viel getrunken hatte gestern Abend, sie war müde, weil sie schwanger war. Und da wusste sie, dass ein Kind zwar keines ihrer Probleme löste, dass Tom sich nicht änderte, dass er kommen und gehen würde, dass dieses Kind aber trotzdem ein Geschenk des Himmels war und sie beschenkt worden war, beschenkt, beschenkt, beschenkt.
     
    Sie schloss die Augen.
    Ein kleines, dunkelgelocktes Mädchen stand neben ihr im Naturkundemuseum und fragte sie, warum
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher