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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
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was zu retten war. Sah es so aus, wenn man sich mit dem falschen Leben abgefunden hatte?
    »Champagner?« fragte Albert in Großvaters Richtung, und dann in Veras Richtung: »Vera immer, mit und ohne Anlass.«
    »Anlässe sind was für Betriebsräte«, sagte Vera.
    »Du weißt doch gar nicht, was ein Betriebsrat ist«, sagte Großvater.
    »Muss ich das, damit du den Champagner endlich holst?«
     
    Die drei wirkten wie Schauspieler, die ihren Text kannten. Großvater ging an Großmutter vorbei in die Küche, und als er verschwunden war, änderte sich die Stimmung schlagartig, das Stück war wie auf Pause gedrückt.
    Großmutter schien sich zu sammeln. Sie lief langsam durch den Raum hindurch ans Fenster und sagte dann: »Ich dachte, es wäre fairer, jetzt den Rest auch noch ..., ich meine, wenn wir schon einmal dabei sind, reinen Tisch zu machen. Ich weiß, dass ihr aus allen Wolken fallen werdet, aber dort ist es ja auch nicht so bequem mit all dem Regen.« Sie machte eine Pause: »Meine Tochter ist nicht von Bernhardt. Wenn jemand mal genau hingesehen hätte, dann hätte man es auch erkennen können, aber es sieht niemand genau hin, niemand will doch genau hinsehen, oder? Wozu auch, macht ja meistens nur Ärger. Also deine Mutter«, sagte sie und wendete sich Siri zu, »ist nicht von Bernhardt, sie ist Alberts Tochter, und somit ist Albert dein Großvater.«
     
    Was? Was hatte Großmutter da gerade gesagt?
    Sie war nicht Großvaters Enkelin?
    Albert war ihr Großvater?
     
    Großmutter hatte gelogen. Das war das Geheimnis, das all die Jahre in ihrem Magen gelegen hatte, zentnerschwer und ungreifbar. Also doch.
     
    Vera war kreidebleich, Albert ausdruckslos. Das ganze Leben dauerte diese Sache schon, und ihre Mutter hatte einen Vater gehabt, den sie Onkel Albert genannt hatte.
     
    »Tut mir leid, Albert, dass ich dir das jetzt erst sage, aber du hast es auch nicht hören wollen«, sagte Großmutter dann leise und vertraut in Alberts Richtung, der mit abgewandtem Kopf dasaß.
    Siri versuchte zu atmen, Albert hatte auch nichts gewusst. Sie nahm Veras Hand, die eiskalt war und zitterte. Siri schaute zu Boden, auch wenn sie nichts lieber getan hätte, als Albert anzuschauen, sein Gesicht anzuschauen. Daher ihre blonden Haare, daher das Aussehen, das alle immer so gewundert hatte. Natürlich. Ihre Ähnlichkeit mit Albert war frappierend, es bestand kein Zweifel. Sie war Alberts Enkeltochter, sie war ein Spross von Alberts Familie, sie hätte selbst darauf kommen können, aber das Geheimnis besaß eine solche Strahlkraft, dass es sie geblendet hatte.
     
    »Vielleicht will es ja einer von euch Bernhardt sagen, ich kann es nicht, und ich habe auch schon genug gesagt heute, finde ich«, sagte Großmutter und öffnete das Fenster.
    Da kam Großvater ins Zimmer mit einem Tablett, fünf Gläsern und einer Flasche Champagner. Er hielt den Ton. »Champagner ohne Anlass«, sagte er und entkorkte die Flasche.
    Vera ließ Siris Hand los.
     
    Wenn man das alles mit zwanzig schon gewusst hätte, dann hätte man nicht dauernd versucht, ans Leben heranzukommen. Mit zwanzig hätte sie garantiert keinen Mann wie Eduard geheiratet. Mit zwanzig hätte sie sich für etwas entschieden, das scheitern konnte.
    Sie stand auf, gab Großvater einen Kuss, umarmte ihn und sagte: »Ich muss los, ich habe Vera versprochen, mit ihr ins neue Bode-Museum zu gehen.«
    Großvater umarmte sie, Großmutter schickte einen flatterndenBlick auf den Boden, und Albert fasste sich an die Brust.
     
    »Die können das«, flüsterte sie Vera ins Ohr, der es sichtlich schwerfiel, die Szene zu verlassen, »die drei können das.«
    Als sie im Aufzug standen, zitterte Siri: »Nur wir können das nicht.«
    »Dein Großvater liebt sie«, sagte Vera und streichelte Siri über die Wange.
    »Und Großmutter?«
    »Sie liebt das Glück, genau wie Albert.«
    Siri schüttelte den Kopf.
    »Können wir jetzt Felix aus dem Kindergarten abholen? Ich würde gerne meinen, ich meine: seinen ... Urenkel sehen.«
    »Du bist ...«, sagte sie.
    »Ich weiß«, sagte Vera, »genau wie du.«
     
    Als sie vor dem Kindergarten parkten, stellte Vera plötzlich eine Frage, die Siri den Atem stocken ließ: »Wünschst du dir eigentlich manchmal, dass Eduard nicht mehr da ist?«
    Sie schaute aufs Lenkrad, hoffte, dass dieser Satz einfach weiterflog, dass sie ihn nicht hören musste, dass Vera ihn nicht gesagt hatte.
    »Ich meine, dass du noch einmal von vorne anfangen kannst, ohne schuld
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