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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
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verschwand.
     
    Inzwischen waren bestimmt zwanzig Minuten vergangen. Die Lobby war heute mit Rosen in Pastellfarben geschmückt, und aus der Aufzugstür kamen vor allem japanische Geschäftsmänner und Touristen, kein Yoshihiro. Ob er oben auf sie wartete? Die geplünderte Minibar aus dem alten Forum-Hotel fiel ihr ein, die kleinen Fläschchen, die übers Zimmer verteilt waren. Was tat er so lange da oben? Sie bestellte sich einen Kaffee, blätterte in einer englischen Zeitung und vermied es, in die Schaufenster der Boutique zu schauen. Irgendwie schämte sie sich doch ein bisschen für ihren Auftritt gestern Abend in der Bar. Ein gutaussehender Mann in grauem Anzug setzte sich in den Sessel neben ihr. Er grüßte sie und packte ein Buch aus der Tasche. Es waren Erzählungen von Yukio Mishima auf Deutsch. Sie lächelte ihn an.
    Er fragte: »Kennen Sie das Buch?«
    »Ich nicht, aber für eine Freundin spielt es eine große Rolle.«
    »Kommen Sie aus Berlin?«
    Sie stockte, schaute ihn fragend an: »Ja, woher ...?«
    »Dann sind Sie wahrscheinlich Alison?«
    Sie wurde bleich, griff sich in die roten Haare.
    »Yoko hat Sie gesucht, oder wollte Sie jedenfalls suchen, bevor ich Sie, nun, sagen wir, in meinem Hotelzimmer festgehalten habe«, sagte er mit einem Lachen.
    »Sie haben sie festgehalten?« Das war doch sonst Yokos Rolle, wollte sie sagen.
    »Ich habe sie festgehalten, und dann habe ich sie zum Bahnhof gebracht. Sie ist zurückgeflogen nach Berlin. Leider. Sie war ...«
    »Ich weiß«, sagte sie.
    »Sie meinte, Sie hätten Dinge zu klären hier in Tokio, bei denen sie Ihnen nicht helfen konnte. Es sei also in Ordnung zu fahren, ohne Sie gefunden zu haben.« Er machte eine Pause, dann fragte er: »War es in Ordnung?«
    Sie hielt kurz inne, dann nickte sie: »Ich glaube schon.«
     
    Noch immer kein Yoshihiro. Und wenn ihm da oben etwas passiert war?
    »Warten Sie auf jemanden?« fragte er.
    Sie nickte.
    »War Yoko bei ihrer Familie – wissen Sie das?« fragte sie dann.
    »Wir haben nicht viel geredet«, sagte er lächelnd.
    Sie lächelte auch. Yoko eben. »Darf ich Sie was ganz anderes fragen?«
    Er nickte: »Natürlich.«
    »Finden Sie, dass ich aussehe wie Scarlett Johansson?«
    Er schaute sie stirnrunzelnd an: »Nein, finde ich gar nicht, aber ich mag sie auch nicht, sie sieht so träge aus. Und Sie, Sie sehen aus wie jemand, der ..., na ja, jedenfalls nicht so träge.«
    Sie kramte in ihrer Tasche. Die Frage war ihr peinlich. Sie hatte einen eitlen Beigeschmack. Dabei wollte sie eigentlich etwas ganz anderes fragen, eigentlich wollte sie herausfinden, ob man die andere Frau sehen konnte. Aber wie fragt man so etwas?
     
    Da trat Yoshihiro aus dem Aufzug, den gepackten Koffer in der rechten Hand, das grüne Oberteil in der linken. Sein Blick war verändert, seine Haare zerzaust. Alison verabschiedete sich schnell, der Mann küsste ihr die Hand, und sie ging auf Yoshihiro zu.
    Was haben Sie getan? wollte sie ihn fragen.
    »War das Ihr Mann?« fragte er.
    »Wer?«
    »Der Mann da«, sagte er und deutete auf die Sitzgruppe, in der sie gerade gesessen hatte. Doch in dem Sessel saß niemand. »Haben seine Lippen Ihre Hand berührt?«
    Sie blickte sich um.
    »Das weiß ich nicht, ich habe sie jedenfalls nicht gespürt, vielleicht.«
    »Das behalte ich«, sagte er und öffnete seine Faust mit dem grünen Oberteil.
    Warum? wollte sie fragen.
    »Als Pfand für meine Wünsche.«
    »Für Ihre Wünsche«, sagte sie und lächelte ihn an.
    »Alice im Wunderland«, sagte er und winkte ein Taxi herbei.
    Alice im Niemandsland. Das Niemandsland in ihrem Herzen, dachte sie, Menschen können in ihm verschwinden.
     
    Am Flughafen sagte er: »Gehen wir jetzt auseinander wie die beiden in der letzten Szene des Films?«
    »Das wäre schön«, sagte sie.
    »Das wäre traurig«, sagte er.
     
    Sie stieg ins Flugzeug und schlief den ganzen Flug hindurch, ohne auch nur einmal aufzuwachen.
     
    In Berlin war es grau und kalt, und auf dem Weg in ihre Wohnung gab es weder Leuchtreklamen noch Schulmädchen mit Kniestrümpfen und Plateauschuhen. Berlin war wie ausgestorben. Der grimmige Taxifahrer fragte sie zum Glück nicht, wo sie gewesen war und ob sie hier lebte.
    Alles würde jetzt davon abhängen, nicht gleich wieder die Alte zu werden, nicht gleich etwas klären zu wollen, was sich sowieso nicht klären ließ. Vielleicht war auch das etwas, was sie gerade erst begriffen hatte: dass es Dinge gab, die sich nicht klären lassen;
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