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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
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dass es Wege gab, die zu verschlungen sind, um sie im Rückblick nachzuvollziehen, und dass es galt, sich inmitten dieser Unschärfen einzurichten.

 
    Großmutter hatte sie gebeten, dabei zu sein, wenn sie nach Hause zurückkam, hatte ihr gesagt, es wäre für alle Beteiligten besser, auch für Großvater, er müsse dann nicht so hart sein. Hart, hatte Siri gefragt, sie habe Großvater noch nie hart erlebt. Sie sei auch nicht mit ihm verheiratet, hatte Großmutter geantwortet und ihr übers Haar gestreichelt.
    Sie klingelten. Nichts rührte sich.
    »Wo ist er denn?« fragte Großmutter sichtlich nervös. »Wo kann er um diese Zeit denn sein?«
    Sie hob die Schultern, dann summte der Türöffner. Normalerweise fragte Großvater nach, bevor er die Tür öffnete.
    »Seit wann trägst du Grün?« fragte Großmutter im Aufzug. »Willst du ein kleines Krokodil zur Welt bringen?«
    Sie reagierte nicht.
    »Was ist denn los? Ich find’s ja schön, dein Grün. Du kannst sowieso alles anziehen. Aber muffelig bist du heute, wirklich muffelig. Schließlich musst ja nicht du zu Kreuze kriechen, sondern ich.«
    Zu Kreuze kriechen, so empfand sie das also.
    »Und dein Großvater ist der Held, der alles übersteht.«
    Großmutter schien auf eine Reaktion zu warten, dann fuhr sie fort: »Redest heute einfach nicht mit mir, obwohl ich zurückkomme, alles wieder zurücknehme. Aber so war es ja auch beim letzten Mal in den ersten Monaten: immer diese Laune morgens.«
    »Ich bin nicht ...«
    »Siehst du, hab ich’s doch gesagt. Ach, die letzte Nacht imHotel mit all den Sachen, wie eine Stadtstreicherin kam ich mir vor. Die ganze Geschichte ..., aber trotzdem ...«, plötzlich hatte Großmutter einen weichen Ausdruck in den Augen, »aber trotzdem hast du mir sehr geholfen mit deinem Besuch. Ich glaube, du hast uns vor einer großen Katastrophe bewahrt. Albert und ich gehen ein wie die Primeln, wenn wir Vera und Bernhardt nicht haben, das hatten wir nicht gewusst. Wir wollten einfach nicht ins Grab steigen, bevor wir nicht einmal wahrhaftig gewesen waren. Und jetzt? Jetzt weiß ich nicht mehr, was wahrhaftig ist. Vielleicht war es wahrhaftig, bei deinem Großvater zu bleiben, vielleicht wäre es wahrhaftig gewesen, ihn gar nicht erst zu heiraten – ich weiß es wirklich nicht. Das Einzige, was ich rausgefunden habe, ist, dass ich nicht mit Albert leben kann. Jedenfalls nicht mehr. Vielleicht ist das auch so ein Mythos – das mit der Wahrhaftigkeit, vielleicht braucht man sie nur, um sich irgendwas wünschen zu können.«
     
    Da öffnete sich die Tür, und vor ihnen stand nicht Großvater, sondern Vera.
    Großmutter wich zurück.
    Vera sagte in Großmutters Richtung: »Keine Angst, sie duellieren sich nicht, sie trinken Tee wie die englischen Lords und schwärmen von dir.«
    »Er ist hier?« fragte Großmutter.
    »Nun, das sollte dich nicht wundern, er wohnt hier, soviel ich weiß. Aber wenn du Albert meintest, ja, er ist auch hier, und ich auch: Guten Morgen, Charlotte«, dann ging Vera auf Charlotte zu und küsste sie einmal, nicht zweimal wie sonst immer: »Das muss reichen, schließlich bist du mit meinem Mann durchgebrannt.«
    »Ich ...«, stammelte Großmutter, aber Vera winkte ab: »Erspar’s uns einfach, alles ist wieder beim Alten. Keine Erklärungen,keine Entschuldigungen. Die Männer unterhalten sich über Wimbledon, obwohl sich kein Mensch mehr über Wimbledon unterhält, weil es einfach passé ist und dieser Schweizer Hüne sowieso alles gewinnt.«
    Charlotte blieb im Hausflur stehen.
    Vera nahm Siri in den Arm und ging mit ihr voraus ins Wohnzimmer. Charlotte kam gesenkten Kopfes hinterher, bis sie im Angesicht der beiden Männer wieder etwas Fassung gewann.
    Großvater verzog keine Miene, lächelte nicht, sondern stand auf und küsste Großmutter auf die Wange, dann stand Albert auf und küsste sie links und rechts, wie man eine Bekannte begrüßt. Großmutter stand da, als wüsste sie nicht, wo hier die Sofas standen.
    »Wenn wir das geahnt hätten, dass es heute Morgen gleich eine solche historische Reunion geben würde, hätten wir Champagner mitgebracht«, sagte Vera.
    »Wollt ihr?« fragte Großvater, und Großmutter schüttelte den Kopf, noch immer auf der Schwelle stehend.
    Siri schaute auf Großmutters Füße, die in den Turnschuhen steckten. Großvater saß wieder und tat weiterhin so, als wäre nichts passiert. Alberts Ausstrahlung hatte sich verbarrikadiert, und Vera versuchte wie immer, zu retten,
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