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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
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Yoko.
    »Verantwortung ist besser, als du denkst. Du bist nicht freier als ich, nur weil du für nichts und niemanden Verantwortung übernehmen willst. Ich glaube sowieso, dass das nur mit zwanzig funktioniert.«
    »Ich bin zwanzig«, sagte Yoko und öffnete sein Hemd, um ihm ihren nackten Körper zu zeigen.
    »Das meine ich nicht«, sagte er und strich ihr über den Bauch.
    »Ich denke darüber nach«, sagte sie und schloss sein Hemd wieder über der Brust.
     
    Zurück zu Hause setzte sie sich in ihr hellgrünes Wohnzimmer und zog die Schuhe aus. Der weiße Tod. Hatte Klaus von Trauerkleidung gesprochen? Hatte sie tatsächlich bis jetzt Trauer getragen?
    Sie strich über ihr Kleid, das ziemlich ramponiert war, und über die rotgeriebenen Handgelenke. Langsam begann das erste Tageslicht auf die hellgrünen Wände zu fallen. Hellgrün. Es war tatsächlich etwas Hellgrünes gesprossen, auf den Wänden, in ihr. Da musste sie plötzlich lachen. Das Lied von Kermit, dem Frosch, fiel ihr ein: Grün zu sein ist auch nicht leicht .
     
    Sie streckte sich auf dem Sofa aus und schloss die Augen. Und auf einmal war ihr, als sähe sie hinter ihren geschlossenen Lidern einen Kranich, der sich erhob und davonflog, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Tonderu onna«, flüsterte sie, »fliegende Frau.« Sie setzte sich auf. Vielleicht würde sie doch im Büro einsteigen und endlich die Häuser bauen, die Berlin brauchte, um sein Licht und seinen Schatten zu bespielen. Und mit Klaus erst einmal alles offenlassen. Ein bisschen Weiß konnte ihr Leben schon noch vertragen. Sie schaute sich um: die hellgrünen Wände, ihr rotes Kleid, und sie lachte. Zum Glück mussten Menschen mit hellgrünen Wänden keinen Kuschelsex haben, zum Glück konnte man auch danach mit einem roten Kleid einfach verschwinden. Zum Glück musste sich nicht alles ändern, nur weil sie ihr Leben ändern wollte.

 
    Mittags war Eduard tot. Eduards Partner aus der Kanzlei rief an und sagte Siri, er sei gerade gestorben, so als versuchte er ihr mit seiner Nüchternheit beizustehen, so als könnte seine Nüchternheit ihr helfen. Dann klingelte es, und vor der Tür standen ihre Großeltern mit roten Augen und zusammengepressten Lippen; fünf Minuten später kam Albert, barfuß in seinen Schuhen.
    Eduards Partner hatte gesagt, dass man noch nicht wisse, was genau passiert war, dass Eduard zusammengebrochen und gestorben sei, bevor der Krankenwagen gekommen war; und dass er gleich versucht habe, sie zu erreichen, aber dass niemand ans Telefon gegangen sei.
    Das Klingeln ihres Telefons. Das Klingeln, das ihr nichts gesagt hatte, weil es niemanden gab, mit dem sie sprechen wollte. Beim zweiten Klingeln hatte sie nur abgenommen, weil sie befürchtete, Felix könnte etwas passiert sein. Um Eduard hatte sie sich noch nie in ihrem Leben Sorgen gemacht, noch nie. Und jetzt war er tot. Bevor er im Krankenhaus angekommen war. Ohne Operation, ohne irgendwem die Schuld dafür geben zu können. Einfach so. Als ob man so etwas machen könne.
     
    Als sie aufgestanden war, um ihren Großeltern die Tür zu öffnen, merkte sie erst, dass sie geweint, dass sie geschrien hatte; dass das Telefon neben ihr auf dem Boden lag, die Kaffeetasse zerbrochen war und die Scherben jetzt in einer bräunlichen Lache schwammen, die natürlich kein Blut war und auchnicht so aussah, weil Eduard gestorben war, ohne zu bluten, und sie auch nie blutete, weil sie beide nie geblutet hatten in der ganzen Zeit, weil ihr Blut in einem Kreislauf eingeschlossen war, der sie am Leben erhalten hatte. Und jetzt war er tot.
    Nun waren sie alle im Wohnzimmer. Sie kauerte auf dem Sofa, Albert wischte sich die Tränen von den Wangen, und Großmutter versuchte irgendwelche Sätze anzufangen, die nach vorne gerichtet waren, obwohl die Zeit stehengeblieben war und jedes Drehen am Zeiger eine Obszönität darstellte. Großvater saß neben ihr, seinen Arm hinter ihr auf dem Sofa ausgestreckt, so dass sie dort hätte hineinsinken können, wenn sie es gewollt hätte. Das Einzige, was sie annehmen konnte, auch wenn es nichts bewirkte. Und auf einmal kam etwas auf den Punkt: Sie war nicht zu trösten. Nicht bei dem Tod ihrer Eltern, nicht in ihrem bisherigen Leben, nicht jetzt. Eduard war tot.
    Sie hatte sich nie Sorgen um Eduard gemacht, Eduards Tod war noch nie durch ihre Gedanken gegeistert, nicht einmal gestern, als Vera ihr vor dem Kindergarten die Frage gestellt hatte. Selbst gestern hatte sie nur über Vera nachgedacht,
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