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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
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dringend Valium. Das ist kein Zustand, so geht das nicht.«
    Wieder war sie mit Albert allein, wieder zitterte er, und wieder konnte sie schluchzen, weil er zitterte.
     
    Albert ging ans Fenster und schaute auf die Straße. Nach einer Weile sagte er: »Siri, komm, da kommt Vera. Sie hat Felix auf dem Arm.«
    Siri richtete sich auf, wankte zu Albert hinüber und schaute aus dem Fenster. Vera trug Felix tatsächlich auf dem Arm, und beide weinten wie die Schlosshunde.
    Sie hatte es ihm gesagt! Sie hatte ihr die Rolle des Boten abgenommen, sie hatte sich für immer mit dieser Botschaft verknüpft, sie hatte es ihm gesagt.
     
    Was dann passierte, erlebte sie nur noch schemenhaft. Vera trug Felix in ihr Schlafzimmer, legte ihn aufs Bett, sie folgte ihr und legte sich dazu. Sie weinten und hielten sich. Felix stellte Hunderte von Fragen, erzählte lauter Sachen, die er über den Tod wusste, über die toten Menschen, über Engel, den lieben Gott, irgendeine Himmelsleiter, und sie weinte und streichelte ihn, und Vera saß daneben und bewachte sie und war einfach nur da. Und weil sie da war und sie bewachte, hatten sie beide keine Angst, mussten nicht tapfer sein, sondern konnten ganz in diesem Moment verschwinden und sich in der Trauer auflösen.
     
    Als Felix eingeschlafen war, lag Siri neben ihm und schaute Vera an.
    »Ich werde dir das nie vergessen.«
    Vera blickte mit tränenerfüllten Augen zurück.
    Siri strich Felix über seinen vom Schlaf verschwitzten Kopf. Dann drehte sie sich auf den Rücken und schaute zur Decke, auf der sich die Schattenfiguren des wehenden Vorgangs bewegten.
    Aus diesem Leben würde sie nicht mehr herauskommen, sie würde es weiterleben müssen, bis es zu Ende war. Dass das Leben selbst die Zügel in die Hand nehmen konnte, damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte immer gedacht, sie hätte alles in der Hand, wäre schuld an jeder missglückten Wendung, jedem Fehltritt, jedem Streit. Aber vielleicht war sie gar nicht allein schuld an ihrem verpfuschten Leben. Vielleicht gab es Leben, die so abliefen. Und vielleicht fühlte sich alles ganz anders an, wenn man nicht immer dachte, man sei schuld an allem. Es gab den Tod, und es gab das Leben. Und das Leben hatte für sie entschieden. Sie hatte keine Wahl mehr. Sie würde es leben müssen, auch wenn sie nicht den Hauch einer Ahnung hatte,wohin es sie führen würde. Keine Richtung, die sich aus den bisherigen Schritten ergab, kein Drahtseilakt, den es zu bewältigen galt, nichts. Nur der Tritt in die Leere.

 
    Und dann stand Alison vor ihm, und Victor hatte einen Verband am Ohr. Sie hatte geklingelt, sie hatte ihren Namen durch die Gegensprechanlage gesagt. Er hatte die Tür schon geöffnet, als sie hinaufkam, und schaute sie mit einem Blick an, der alles und nichts bedeuten konnte.
    Und sie hatte gedacht, dass sie ihn verloren hatte, für immer verloren. Sie hatte gedacht, dass ihr Tanz auf dem Fest der letzte Tanz gewesen wäre, sie hatte gedacht, dass sie ihn hätte festhalten müssen, dass sie nicht hätte loslassen dürfen. Und jetzt? Jetzt stand er vor ihr und schaute sie an – mit diesem Blick, den sie nicht deuten konnte.
    Ein Druckverband lag auf seinem rechten Ohr, ein anderer ging quer über seinen Kopf. Bist du entführt worden? wollte sie fragen, und das Bild des Getty-Enkels tauchte vor ihr auf. Er trat zur Seite. Irgendwie hatte sie erwartet, dass er im Türrahmen stehen bleiben würde und sie irgendein Rätsel lösen müsste, um wieder zu Hause eingelassen zu werden.
    »Mein Ohr«, sagte er, als spräche er von einem funkelnden kleinen Gegenstand.
    Van Gogh. Nein, so sah er nicht aus, er sah nicht aus wie jemand, der sich selbst ein Ohr abgeschnitten hatte.
    Ihre Finger tasteten die Linie des Verbandes nach, der über seinen Haaren lag. Mit allem hatte sie gerechnet.
    »Ich könnte dich übrigens noch hören, falls du was sagen möchtest«, sagte er und deutete auf das freiliegende Ohr.
    Ihre Finger hielten inne.
    »Du siehst anders aus«, sagte er.
    Er sieht es, dachte sie, er sieht es.
    »So als ...«, er brach ab.
    Sie schaute zu Boden. Wenn er es wirklich sah, dann ...
    »Du siehst aus, als wärst du am anderen Ende der Welt gewesen«, er hielt kurz inne, »und hättest dich von dort mitgebracht.«
    Sie schaute ihn an.
    Du hast dich selbst angelockt, ich warte nicht auf dich. Ich bin da.
    Wenn sie nicht sicher gewusst hätte, dass es nicht so war, dann würde es jetzt im Raum stehen: dass sie selbst diese Nachricht
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