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Dunkler Zwilling

Dunkler Zwilling

Titel: Dunkler Zwilling
Autoren: Doris Bezler
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hervorlugte. Sie ließ sich nichts anmerken. »Du solltest noch einmal in aller Ruhe mit ihnen reden! Wenn du willst, komme ich dazu.«
    Max zog die Decke bis zum Kinn. »Es gibt nichts mehr zu reden! Ich weiß jetzt Bescheid. Und es erklärt auch so manches!«, verkündete er düster, rollte sich mit dem Gesicht zur Wand und zog die Decke über die Ohren. Das Buch knisterte. Max rückte es unauffällig zurecht.
    Frau Wirsing, senior, verzog schmerzlich das Gesicht. »Wie meinst du das? Was soll es erklären?«
    »Dass sie so oft Zoff mit mir haben, dass sie mich nicht verstehen, dass sie mich mit dem Taschengeld so knapp halten, dass es in dem Scheißhaus kein Internet und keinen vernünftigen Computer gibt, dass es …«
    »Nun mach aber mal halblang«, brauste die Großmutter auf. »So was kommt überall vor. Als dein Vater so alt war wie du, da …«
    Max setzte sich mit einem Ruck auf. Mit wutverzerrtem Gesicht herrschte er sie an, wie er es noch nie getan hatte: »Mein Vater? Wer bitte schön? Mein Vater? Du weißt nicht, was mein Vater in meinem Alter getan hat, du weißt nur, was dein Sohn, dieser verlogene Schrottbastler in meinem Alter getan hat! Und das interessiert mich nicht!«
    Die Großmutter war entsetzt einen Schritt zurückgewichen. »Max, du versündigst dich«, flüsterte sie. »Das kannst du nicht so meinen! Das sagst du jetzt nur, weil du so verletzt bist. Ich verstehe das. Aber du musst auch verstehen, dass deine Eltern …«
    »Nein!«, brüllte Max. »Sag nie wieder ›deine Eltern‹ hörst du? Und jetzt geh raus und lass mich endlich in Ruhe! Lasst mich doch endlich alle in Ruhe!« Max drehte sich mit einer heftigen Bewegung wieder zur Wand.
    Über das Gesicht der alten Frau rannen Tränen. Ihre Hände hoben sich in einer hilflosen Geste und senkten sich wieder. Schorsch winselte und kratzte an der Tür. »Ich lass ihn mal raus in den Garten«, sagte sie mit leiser Stimme und griff nach der Türklinke.
    Mit einem Satz war Max aus dem Bett und drückte gegen die Tür. Schorsch verkroch sich mit eingezogenem Schwanz unter dem Schreibtisch. »Nein!« rief Max. »Du lässt Schorsch nicht mehr allein in den Garten! Hast du gehört?«
    Die alte Frau Wirsing sah erschrocken zu ihrem Enkel auf, der sie um mehr als einen Kopf überragte. Ihre runzeligen Lippen zitterten, als sie sagte: »Aber der muss doch einmal raus, Max! Du kannst deine Wut doch jetzt nicht an dem Hund auslassen!«
    »Mach ich ja nicht«, brummte Max. »Ich gehe gleich mit ihm um die Ecke. Und jetzt geh raus, damit ich mich umziehen kann!«
    Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Ja, dann …«, sagte sie und verließ mit müden Schritten das Zimmer, als seien ihre Knochen mit einem Mal um Jahre älter geworden.
    Max starrte auf die geschlossene Tür.

Donnerstag, der 3. Januar
    Heute Morgen lag wieder so ein Brief bei uns im Kasten. Allerdings steckte er nicht in einem blauen Umschlag wie die beiden vom 25. und 29. Dezember. Der Umschlag war weiß, es war ein anderer Text. Auch mit der Hand geschrieben, aber eine andere Schrift. Ich lege ihn zu den anderen beiden hinten ins Buch.
    Gestern habe ich mich auch noch mit Oma gezofft. Das ist bis jetzt noch nie vorgekommen. Irgendwie tut sie mir ein bisschen leid. Ich hätte sie nicht so abfertigen dürfen. Aber andererseits, wie soll man jemandem vertrauen, der einem so viele Jahre etwas vorgelogen hat? Die gehört doch mit zu dem Komplott! Die ist auch nicht besser als ihr Sohn und ihre Schwiegertochter! Ich wünschte, Chiara wäre hier, und ich könnte ihr alles erzählen!
    Ich habe mich entschlossen, die beiden Personen, die ich bis zum 01.01.2013 als Papa und Mama bezeichnet habe, was ziemlich babymäßig klingt, von nun an mit ihren Vornamen Andreas und Sonja anzureden. Erst hatte ich überlegt, Andreas’ Mutter auch nicht mehr »Oma« zu nennen, aber eigentlich kann sie ja am wenigsten was dafür und ist bestimmt von Andreas und Sonja gezwungen worden, den Schnabel zu halten, was sie dann um des lieben Friedens willen gemacht hat. So ist Oma nun mal: Kinder, keinen Streit, es gibt genug Unfrieden auf der Welt!
    Nach dem Krach mit ihr bin ich mit Schorsch eine große Runde um Modertal gelaufen. Erst unsere Straße entlang, dann rüber zu den Wohnblocks an der Klapperwiese. Kaum war ich dort vorbei, lief mir der kleine Justin über den Weg. Er ist zwölf und sieht aus wie ein Grundschüler. Nur Haut und Knochen und dunkle Ringe unter den Augen. Wie ein verhungerter Waschbär! Er
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