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Dunkle Wasser

Dunkle Wasser

Titel: Dunkle Wasser
Autoren: V.C. Andrews
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gebeugt, über den rauhen Bretterboden schlich. Mit ihren grauen, wallenden Haaren glich sie einer Hexe. Sie wollte bestimmt nicht zum Plumpsklo – Großmutter war die einzige von uns, die den Nachttopf benutzen durfte.
    Wir anderen mußten zum 200 Meter entfernten Plumpsklo wandern. Großmutter war Mitte Fünfzig. Chronische Arthritis sowie andere Leiden machten Großmutter das Leben schwer.
    Sie hatte kaum noch einen Zahn im Mund und sah doppelt so alt aus, wie sie eigentlich war. Leute, die sich daran noch erinnern konnten, hatten mir erzählt, daß Annie Brandywine Casteel einst das schönste Mädchen der Berge gewesen war.
    »Komm mit, Mädchen«, krächzte Großmutter heiser und legte ihre knöcherne Hand auf meine Schulter, »‘s wird endlich Zeit, daß du aufhörst, nachts zu weinen. Vielleicht tust du’s nicht mehr, wenn du die Wahrheit erfährst. Also beeil dich!
    Bevor dein Vater aufwacht, machen wir beide uns auf den Weg, und wenn wir zurückkehren, hast du was, an das du dich halten kannst, wenn er dich böse ansieht und dir mit’n Fäusten droht.«
    Sie seufzte leise.
    »Willst du damit sagen, Großmutter, daß wir hinausgehen sollen? Es ist schrecklich kalt draußen«, warnte ich sie, während ich mich erhob und in Toms viel zu große Schuhe schlüpfte. »Du hast doch wohl nicht vor, weit wegzugehen, oder?«
    »Gewiß«, flüsterte Großmutter, »‘s gehört sich einfach nicht, wie Luke seine Erstgeborene anbrüllt. Und es tut mir noch mehr weh – das Blut stockt mir schier in den Adern –, wie du gleich zurückschnappst, auch wenn’s gar nicht so schlimm gewesen ist und er sich bald wieder beruhigt hatte. Mädchen, Mädchen, was gibst du immer so freche Antworten?«
    »Das weißt du doch, Großmutter«, wisperte ich. »Vater haßt mich, und ich weiß nicht, weshalb. Warum haßt er mich denn so?«
    Es schien gerade so viel Mondlicht durch das Fenster, daß ich ihr liebes, altes Gesicht sehen konnte.
    »Ja, ja, ‘s wird Zeit, daß du’s erfährst«, brabbelte sie vor sich hin, warf mir einen schwarzen, selbstgestrickten Schal über und hüllte ihre schmalen, hängenden Schultern in einen ähnlich düsteren Umhang. Sie führte mich an der Hand zur Tür hin und öffnete sie. Sogleich blies ein scharfer Wind herein. In ihrem Bett hinter dem zerschlissenen blaßroten Vorhang brummten Mutter und Vater leise im Halbschlaf. Großmutter schloß die Tür schnell wieder. »Du und ich haben ‘ne wichtige Reise vor uns, dorthin, wo unsere Vorfahren unter der Erde liegen. Hab’s dir schon die ganzen Jahre über zeigen wollen.
    Und nun gibt’s keinen Aufschub mehr. Die Zeit verrinnt, jawohl. Und eines Tages ist es zu spät.«
    Also schritten meine Großmutter und ich in dieser kalten und verschneiten Nacht zum dunklen Kiefernwald. Eisschollen trieben den Fluß hinunter, und das Heulen der Wölfe erscholl nun aus nächster Nähe. »Jawohl, Annie Brandywine Casteel kann sehr wohl ‘n Geheimnis hüten«, sprach Großmutter wie zu sich selbst. »Die meisten Leute können’s gar nicht, verstehst du. Sind nun mal nicht alle Menschen so auf die Welt gekommen wie ich… hörst du mir überhaupt zu, Mädchen?«
    »Bleibt mir ja nichts anderes übrig, Großmutter. Du brüllst mir ja direkt ins Ohr.«
    Sie hielt mich an der Hand und führte mich immer weiter weg von zu Hause. Es war Irrsinn, jetzt hier draußen zu sein.
    Warum wollte sie mir ausgerechnet in einer frostigen Winternacht ihr wohlgehütetes Geheimnis preisgeben? Warum gerade mir? Aber ich hatte sie so lieb, daß ich sie den holprigen Pfad hinunterbegleitete. Es schien mir, als gingen wir viele Meilen durch die kalte und finstere Nacht, während die alte Mondkugel auf uns herabschien und so aussah, als stecke sie voller böser Absichten.
    Großmutters großartige Überraschung war nichts weiter als ein öder, unheimlicher Friedhof im fahlen Licht des Wintermondes. Bevor sie zu reden anfing, frischte der Wind auf; ihre dünnen Haare flatterten wild und vermengten sich mit meinen. »Was ich dir nun erzähle, ist das einzige, was ich für dich hab’, Kind. Es ist das einzig Wertvolle, das ich dir geben kann.«
    »Hättest du’s mir nicht auch zu Hause erzählen können?«
    »Niemals«, erwiderte sie trotzig. Großmutter konnte manchmal, wenn sie sich etwas vorgenommen hatte, so standfest wie ein alter Baum mit unendlich vielen Wurzeln sein. »Dort hörst du mir überhaupt nicht zu, wenn ich dir was erzähle. Aber hier vergißt du’s dein Lebtag nicht
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