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Dunkle Wasser

Dunkle Wasser

Titel: Dunkle Wasser
Autoren: V.C. Andrews
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    Sie hielt inne, und ihr Blick heftete sich auf ein schmales, kleines Grab. Sie hob ihren Arm und zeigte mit ihrem knorrigen Finger auf den Grabstein aus Granit. Ich starrte darauf und versuchte die Inschrift zu entziffern. Wie seltsam, daß mich meine Großmutter mitten in der Nacht hierher brachte, an einen Ort, wo die Seelen der Toten ihr Unwesen trieben, vielleicht in den Körper eines Lebenden fahren wollten.
    »Solltest deinem Vater verzeihen, daß er so ist, wie er nun mal ist«, fing Großmutter an und schmiegte sich enger an mich, um sich zu wärmen. »Er ist nun mal so, er kann nicht anders; so wie die Sonne nicht anders kann als aufgehen und untergehen.«
    Oh, Großmutter hatte leicht reden. Alte Leute erinnerten sich eben nicht mehr daran, was es hieß, jung zu sein und Angst zu haben.
    »Laß uns nach Hause gehen«, sagte ich schlotternd und wollte sie mit mir fortziehen. »Ich hab’ so viele Geschichten darüber gelesen, was bei Vollmond um Mitternacht auf Friedhöfen geschieht.«
    »Ich hab’ doch mehr Grips, als vor toten, stummen Dingen, die nicht reden und sich nicht bewegen können, mit den Zähnen zu klappern.«
    Sie schloß ihre Arme fester um mich und zwang mich, auf das schmale, eingesunkene Grab zu sehen. »Sei still und hör gut zu, bis ich fertig erzählt hab’. Ich will dir was sagen, was dir helfen wird. Dein Vater hat ‘n ganz bestimmten Grund, warum er so gemein ist zu dir, wenn er dich sieht. Er haßt dich ja in Wirklichkeit gar nicht. Hab’s mir ganz genau durch den Kopf gehen lassen; wenn mein Luke dich anguckt, sieht er ja gar nicht dich, er sieht jemand anderen… Glaub’s Kind, er hat
    ‘n gutes Herz. Ist in Wirklichkeit ‘n guter Mann, das kann man sagen. Hat seine erste Frau so geliebt, er wär’ fast drauf gegangen, als sie starb. Ist ihr in Atlanta begegnet. Er siebzehn, sie vierzehn Jahre und drei Tage alt. Hat sie mir später erzählt.« Großmutters dünne Stimme wurde eine Oktave tiefer.
    »Schön wie ‘n Engel war sie, und – meine Güte –, wie hat sie deinen Vater geliebt. Jawohl, einen Narren hatte sie an ihm gefressen und ist gleich von zu Hause abgehauen. Von Boston immer in Richtung Texas gelaufen, jawohl. Mit ihrem feinen Köfferchen, voller Kleider und Sachen wie Spiegel, Armreifen und Ohrringe. Sie kam, um hier zu leben, aber es war nicht richtig, ‘nen Mann zu heiraten, der gar nicht ihresgleichen war.
    Nur weil sie ihn liebte!«
    »Großmutter, ich wußte nicht, daß Vater schon einmal eine Frau hatte. Ich dachte, Mutter wäre seine erste und einzige Frau.«
    »Du sollst still sein, hab’ ich gesagt. Laß mich das schön der Reihe nach auf meine Art erzählen… Sie kam aus ‘ner reichen Familie in Boston, um mit Luke, Toby und mir zu leben.
    Zuerst hab’ ich sie nicht leiden können. Wußte gleich, die hält nicht durch, gleich von Anfang an. Zu fein und zu gut für unsereinen, die Berge und die viele Mühsal! Dachte, wir hätten
    ‘n Badezimmer oder so was. War ganz durcheinander, wie sie sah, daß sie raus mußte aufs Plumpsklo und aufm Brett mit zwei Löchern sitzen. Da hat doch Luke ihr tatsächlich ein schönes, kleines Klo gebaut. Hat’s sogar weiß angemalt, und sie hat so ‘n hübsches Papier auf ‘ne Rolle gewickelt, das hat sie. Und gefragt hat sie mich, ob ich ihr rosa Papier aus’m Warenhaus benutzen will. Ihr Badezimmer hat sie’s genannt.
    Und umarmt und geküßt hat sie den Luke, daß er ihr’s gebaut hat.«
    »War Vater nicht so bös’ mit ihr wie mit Mutter?«
    »Mund halten, Mädchen, bringst mich ja ganz draus! Als sie zu uns kam, hat sie mein Herz erobert und vielleicht auch das von Toby. Ganz arg bemüht hat sie sich, alles fein und gut zu machen. Gekocht hat sie. Hat versucht, unsere Hütte ein bißchen hübsch zu machen. Und Toby und ich, wir haben ihnen unser Bett überlassen, daß sie ihre Babys auf anständige Art machen konnten und nicht aufm Boden. Sie wollte unbedingt aufm Boden schlafen, unbedingt wollte sie’s, aber wir haben’s nicht zugelassen. Alle Casteels sind im Bett gemacht worden, hoffe ich jedenfalls. Und eines Tages lacht und hüpft sie vor lauter Freude, weil sie ein Kind kriegt. Ein Baby von meinem Luke. Und sie tat mir leid, so schrecklich leid. Wir zwei Alten hatten gehofft, ganz fest gehofft, daß sie wieder nach Hause zu ihren Leuten zurückgeht. Aber die Berge haben sie geholt, wie sie’s immer tun mit den Zarten, Schwachen. Aber glücklich hat sie ihn gemacht, als sie noch
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