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Dunkle Materie

Dunkle Materie

Titel: Dunkle Materie
Autoren: Aner Shalev
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sagen, dass Eva verschwunden ist, ihm diesmal aber ihren Körper als Pfand zurückgelassen hat. Er weiß, wo sich ihr Körper befindet, aber er weiß nicht, wo sie selbst ist. Vielleicht wird sie in ihren Körper zurückkehren, vielleicht auch nicht. Er wird versuchen, den Zeitpunkt vorherzusagen, in dem ihr Bewusstsein zurückkehrt. Er wird über all die Geschichten nachdenken, die sie ihm nicht zu Ende erzählt hat. Er wird denken, dass jetzt noch November ist, aber in wenigen Tagen schon Dezember. Er wird begreifen, dass man den Lauf der Monate nicht aufhalten kann.
    Sein Zimmer wird manchmal sauber gemacht werden und manchmal nicht. Manchmal wird er das Schild
Bitte nicht stören
zwei Tage lang an der Türklinke hängen lassen, als würde wer weiß was im Zimmer passieren. Und so, wie er nicht auf regelmäßige Mahlzeiten achten wird, wird er auch nicht darauf achten, sich zu waschen und zu rasieren. Er wird sich fragen, ob er schon trauert, noch bevor es einen Grund dafür gibt.
    Von Zeit zu Zeit wird man ihm die immer gleichen Fragen stellen. Man wird ihn fragen, wann genau Eva ohnmächtig wurde, aber er wird nicht antworten können. Man wird ihn fragen, ob sie gegen diese oder jene Medikamente allergisch gewesen sei, ob sie Probleme mit der Blutgerinnung hatte. Man wird ihn fragen, ob er der Vater sei, in einem feierlichen Ton, als würden auch Mutter und Baby mit einem feierlichen Lächeln im Nebenraum warten.
    Er wird Dr. Berman anrufen und sie wird kommen. Er wird mit halbem Ohr den heftigen Diskussionen zwischen ihr und den Krankenhausärzten lauschen. Dr. Berman wird weinen, und er wird versuchen, sie zu trösten. Zwischen ihnen wird sich eine seltsame Solidarität zeigen. Manchmal werden sie gemeinsam an Evas Bett sitzen und kein Wort sagen. Beschämt, als säßen sie auf der Anklagebank eines Gerichts. Dr. Berman wird in Jerusalem und Sankt Petersburg anrufen, und danach wird sie wieder weinen. Dr. Berman wird ihm von ihrem Leben erzählen.
    Eines Tages, an Evas Bett im Krankenhaus Mount Sinai, wird er Evas Mutter kennenlernen. Niemand wird sie ihm vorstellen, aber er wird wissen, wer sie ist, in einer Art Offenbarung. Er wird sagen, ich habe so viel von Ihnen gehört, ich wollte Sie schon immer kennenlernen. Evas Mutter wird kein Wort sagen. Er wird von ihrem Schweigen verzaubert sein.
    Alle Frauen, die er einmal hatte, und alle Frauen, die er noch haben wird, werden plötzlich zu einer einzigen Frau. Immer jung. Immer fröhlich. Eine Frau, der die Frauen, die nach ihr kommen, ewiges Leben schenken und die deshalb nie alt werden und sterben wird. In seiner Phantasie wird er sich solch eine Frau formen. Sie wird Tanjas Augen haben, Evas Brüste, Ruths Hüften und Dr. Bermans Beine. Wenn er mit dieser Frau schlafen wird, wird er mit allen Frauen der Welt schlafen. Alle Frauen der Welt sind eigentlich eine einzige Frau.
    Im Krankenhaus wird er alles tun, um ein zufälliges Zusammentreffen mit Ruth zu vermeiden. Er wird versuchen, sich an ihren Dienstplan zu erinnern. Dienstags hat sie Nachtdienst. Er wird nicht in die Cafeteria gehen. Er wird den sechsten Stock meiden. Er wird den Aufzug nicht benutzen und nur die Treppen nehmen. Er wird denken, dass sich beide Frauen, die ihm nahestehen, im selben Gebäude befinden, ohne voneinander zu wissen, wie am Schluss eines großartigen Dramas. Vor der einen versteckt er sich, und die andere kann ihn sowieso nicht sehen.Es wird Momente geben, in denen jede Frau in einem weißen Kittel Ruth sein wird.
    Mitunter wird er die Versuchung verspüren, zu Ruths Zimmer im sechsten Stock zu gehen und sie um Hilfe zu bitten. Vielleicht wird sie Eva retten können. Er wird ihr alles erzählen. Kein Detail wird er vor ihr verheimlichen. Wenn es etwas gibt, was er von Eva gelernt hat, was er Eva schuldig ist, dann ist es, mit den Lügen aufzuhören und anzufangen, die Wahrheit zu sagen.
    Er wird sich vorstellen, wie er die Tür von Ruths Zimmer im sechsten Stock öffnet und sagt, hier bin ich. Ich wusste nie, ob du es wissen willst. Aber jetzt habe ich mich entschieden. Ob du es wissen willst oder nicht. Es ist Zeit, dass du deinen Mann kennenlernst.
    Er wird auf dem weißen Behandlungsbett in Ruths Zimmer sitzen und stundenlang reden. Er wird ihr von den vergangenen zehn Jahren erzählen. Der Himmel wird blass werden. Ruth wird kein Wort sagen. Es wird Abend werden. Er wird sich rein
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