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Dunkle Materie

Dunkle Materie

Titel: Dunkle Materie
Autoren: Aner Shalev
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Moment gefürchtet. Und nun ist sie gekommen. Sie kriecht auf mich zu, sie kriecht über meinen nackten weißen Körper. Über den Hals, die Brust, den Bauch. Plötzlich begreife ich, dass sie zwar giftig ist, aber wenn ich mich nicht bewege und keine Angst zeige, wird sie mir nichts tun. Ich verstehe, dass der Trick in vollkommener Entspannung besteht. Sich entspannen. Die Schlange einfach kriechen lassen. Ihre Kraft mit meiner bündeln, statt sie aufgeben. Allen Stress, alle Ängste und Zweifel ziehen lassen, nur einfach daliegen, und nichts wird geschehen. Dieses Bewusstsein ist so tief, dass ich keine Angst mehr habe. Ich beruhige mich. Und die Schlange kriecht über mich. Langsam. Von oben nach unten. Über meinen ganzen Körper. Eigentlich ist es ziemlich angenehm. Und dann wachte ich auf. Mit einem guten Gefühl.
    Â 
    Ich habe meiner Mutter von der blauen Schlange erzählt. Sie war sehr glücklich.
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    Â 
    Donnerstag, 25. November, 10:31
Betreff: letzte Mail vor New York
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    Wie kann ich nach alldem nur so fröhlich sein?
    Vielleicht weil ich angefangen habe zu packen, weil es greifbar wird.
    Vielleicht weil ich heute fliege.
    Vielleicht weil Thanksgiving ist.
    Â 
    Ich habe so viele Kleider, die ich in Jerusalem nicht anziehen kann.
    Kleider, die du noch nicht gesehen hast.
    Soll ich sie mitbringen?
    Soll ich dir eine Modenschau machen?
    Heute Morgen saß ich nach meinem Yogaunterricht in einem Café, betrachtete den blauen Umschlag mit dem Flugticket und dachte, dies ist einer der schönsten Tage meines Lebens. Ohne jegliches Drama wegen eines nahen Weltuntergangs. Es war ein reines, ruhiges Glück.
    Â 
    Und dies obwohl ich mich körperlich seltsam fühlte. Seit ein paar Tagen bin ich schwach und mir wird übel. Ich war beim Gynäkologen und habe mich untersuchen lassen. Das Ergebnis werde ich dir heute am JFK erzählen.
    Â 
    Ich denke noch nicht an New York. Ich wage noch nicht, so weit zu denken. Ich denke an den zweiten Stock im Flughafen, in ein paar Stunden. An den Duty-free-Shop. Soll ich uns Champagner mitbringen? Ich denke an den Geschmack des Cappuccinos, den ich dort in der grünen Bar vor den Glaswänden trinken werde, an die Startbahnen.
    Ich denke an den Atlantischen Ozean.
    Alle Männer auf der Straße haben mich heute angestarrt.
    Und eine Frau, die ich nicht kannte, machte mir ein Kompliment wegen meiner Haare. Mein Yogalehrer achtete mehr auf meine Übungen als auf die der anderen.
    Ist das alles dein Zauber, Adam?

16
    In den kommenden Tagen wird er seine Zeit zwischen dem Krankenhaus und dem Hotel aufteilen. Er wird bei ihr am Bett sitzen. Er wird durch die Flure wandern. Er wird eine Zeitung kaufen und jeden Buchstaben lesen, als könne er so die Antwort finden. Vom Fenster ihres Zimmers wird er die Fenster des benachbarten Gebäudes betrachten und sich fragen, ob ihn von dort aus jemand beobachtet. Sein Blick wird die Wagen begleiten, die mit Essen oder Medikamenten leise durch die Flure geschoben werden.
    Die Krankenschwestern werden sich an ihn gewöhnen. Am Anfang werden sie von ihm verlangen, Formulare auszufüllen. Die Fülle der Fragen wird ihn überfordern. Später wird sich die Neugier, die ihm entgegengebracht wird, in Gleichgültigkeit verwandeln. Es wird Momente geben, in denen er sich nach Fragen sehnt. Er wird dünnen Automatenkaffee trinken und auf regelmäßige Mahlzeiten verzichten. Eine Tüte Chips wird ihm für den ganzen Tag reichen. Manchmal wird ihm eine gelangweilte Krankenschwester einen angegammelten Apfel oder einen Magerjoghurt geben.
    Den Weg vom Krankenhaus zum Hotel wird er abends immer zu Fuß zurücklegen. Manchmal wird er das Gefühl haben, dass er während dieser Märsche, die fast zwei Stunden dauern, New York zum ersten Mal sieht. Er wird sich sagen, dass es vielleicht besser wäre, seine ganze Aufmerksamkeit nicht auf eine einzige Person zu konzentrieren, denn das führt zu Blindheit, eswäre besser, allen Menschen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn er mit Tanja in New York spazieren ging, sah er nur Tanja. Wenn er mit Eva unterwegs war, sah er nur Eva. Nun wird ihm zum ersten Mal niemand den Blick auf New York verstellen und die Fußgänger und die Kellner in den erleuchteten Restaurants und die Obdachlosen in den Parks werden alle gleich wichtig sein.
    Er wird wieder allein im Zimmer mit der Nummer 512 sein. Er wird sich
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