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Dunkle Materie

Dunkle Materie

Titel: Dunkle Materie
Autoren: Aner Shalev
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in der 57. Straße, die Mail von Tanja, die jetzt in einem anderen Hotel auf ihn wartete, das Drama mit der Pille, das albtraumartige Essen im indischen Restaurant und jetzt diese Blutungen, hätte sich das nicht auf ein paar Tage verteilen können?
    Seine Augenlider waren unendlich schwer, und er schlief ein, bevor er Zeit hatte, zu begreifen, was los war, und im Traum sah er Ruth, sie trug ihren weißen Arztkittel, er erinnerte sich, wie gern er es hatte, mit ihr zu schlafen, wenn sie den Kittel anhatte und nichts darunter, zu Hause lief sie manchmal so herum, völlig nackt unter dem halb offenen Kittel, und dann ging er zu ihr, drückte sie gegen die Wand oder den Tisch und drang von hinten in sie ein, und so, wenn er in ihr war und mit den Händen in ihren schwarzen Locken wühlte, sah sie aus wie eine edle Stute und er war der Reiter, der sie anspornte, schneller zu laufen, so schnell wie möglich.
    Aber nun, in seinem Traum, waren sie nicht in der Wohnung in der 57. Straße, sondern in einem kleinen, dunklen und feuchten Zimmer, diesem Hotelzimmer verblüffend ähnlich, und Ruths weißer Arztkittel war zugeknöpft und er begann, an den Knöpfen zu spielen, er versuchte den Kittel hochzuheben, aber Ruth sagte, nicht jetzt, siehst du nicht, dass wir nicht allein sind? Und er schaute sich um und sah plötzlich Eva im Bett, sie war miteiner riesigen Bandage umwickelt, wie eine Mumie, zwischen der Farbe der Bandage und der ihres Gesichts gab es keinen Unterschied, und er sah, wie sich Ruth über Eva beugte, sie zur Seite drehte und das Gesäß freilegte, sie holte eine Spritze heraus, und er verstand, dass Ruth ins Hotel gekommen war, um Eva zu behandeln, also war Eva in guten Händen und er konnte beruhigt sein.
    Als er aufwachte, verstand er nicht, was los war, Ruth war nicht hier und Eva auch nicht, und er begann, dieses kleine Zimmer mit der reichen Geschichte zu erkunden, jede Ecke, jeder Gegenstand erinnerten ihn an etwas, hierher war er mit Jane gekommen, nachdem sie ihm an einem Tag im Café Dante ihr ganzes Leben erzählt hatte, und danach war das Café Dante zu ihrem Stammplatz geworden, und hierher war er ein Jahr später mit Neta gekommen, die er bei einem literarischen Abend kennengelernt hatte, und sie unterhielten sich über ihre Gedichte, die so erotisch waren, dass er irgendwann aufgehört hatte, zwischen der Erotik, die ihrem Körper, und der Erotik, die ihren Texten entströmte, zu unterscheiden, als wäre das Vögeln mit ihr ein weiteres Mittel, ihre Gedichte zu analysieren, und einmal hatte er ihr auch geholfen, ein Gedicht ins Englische zu übersetzen, und sie hatten sich wegen der Übersetzung eines einzelnen Wortes zerstritten, danach war die Beziehung abgekühlt, sie schliefen zwar manchmal miteinander, aber sie hatte aufgehört, ihm Gedichte zu zeigen, und hier hatte er auch Anat getroffen, seine Sekretärin, die diese Begegnung gebraucht hatte, als sie sich scheiden ließ, heimlich, in der Mittagspause, und einmal hatte Tanja das Zimmer des Konsuls verlassen und ihn ertappt, als er nach der Pause mit Anat zurückkam, sie hatte ihm einen bösen Blick zugeworfen, aber er hatte ihr hinterher geschworen, dass zwischen ihm und Anat nichts lief, dass es nur Freundschaft war und dass er außer ihr keine andere hatte. Und er fragte sich, was sie alle an ihm fanden und warum sie ihm immer alles erzählten,vielleicht war der Sex die direkte Verlängerung einer Beichte, und er wunderte sich, warum es nie aufhörte, warum er sich von keiner dieser Frauen trennen konnte, warum mussten alle seine Affären parallel laufen, und er dachte, vielleicht deshalb, weil Liebe, wenn sie wahr ist, zwangsläufig ewig ist, und deshalb schafft eine neue Liebe die vorhergehende Liebe nicht ab, sonst hätte die vorhergehende Liebe keine Bedeutung, also müssen die Liebschaften nebeneinander existieren, nicht die eine auf den Scherben der anderen, und diese Vielzahl von Liebschaften ist eigentlich eine Art von Toleranz, und er dachte über das Verlieben nach, als etwas, für das es keine Begründung gab, keine Begründung und keine Erklärung. Je mehr man versuchte zurückzublicken, den Moment zu rekonstruieren, an dem alles begonnen hatte, umso weniger verstand man es, es war wie in der Astrophysik, wenn man den großen Urknall zu rekonstruieren versuchte, und vielleicht war die Schöpfungsgeschichte der Liebe,
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