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Dunkle Gebete

Dunkle Gebete

Titel: Dunkle Gebete
Autoren: Sharon Bolton
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sie. »Zehn Minuten? Zwanzig?«
    Sie starrte mich noch einen weiteren Moment lang an.
    »Tick tack«, sagte ich.
    Einen Augenblick lang sah sie wütend aus. Dann schauderte sie. Schließlich lächelte sie, und das da war noch immer das entzückendste Gesicht, das ich je gesehen hatte. Sie bückte sich, und als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie nicht mehr die Pistole in der Hand, sondern etwas, das aussah wie ein Handtuch. Sie kam auf mich zu, hockte sich hin und wickelte es fest um mein Handgelenk. Der Druck linderte den Schmerz nur ganz wenig. Ich traute mich immer noch nicht, mich zu bewegen, ich sah einfach nur zu, wie sie in Joesburys Tasche griff, sein Funkgerät herausholte und es mir hinhielt. Marks Augen waren immer noch offen, immer noch fest auf mich gerichtet, und auf seiner rechten Wange glitzerte etwas, das aussah wie ein Diamant. Oder eine Träne.
    Halt durch, Mark, halt durch.
    Ich rechnete damit, dass sie floh. Nie, nicht einen Moment lang, hatte ich gedacht, dass sie aufgeben würde. Doch sie sank einfach nur neben Joesbury zu Boden.
    Ich nahm das Funkgerät.
    »Ich hab dich lieb«, sagte ich zu ihr, bevor ich meinen Hilferuf durchgab.

93
    Freitag, 9. November
    Am Freitag, dem 9. November, etwas mehr als elf Jahrzehnte, nachdem Mary Kelly in einem kleinen Mietzimmer nahe der Dorset Street zerstückelt worden war, folgte ich einer Warteschlange einen hell erleuchteten Flur mit gelb gestrichenen Wänden entlang. Wir alle waren ein ganzes Stück gefahren, hatten stundenlang gewartet, jedenfalls kam es mir so vor. Die Menschen um mich herum schienen das alle gewohnt zu sein. Ich nicht.
    Es war das erste Mal, dass ich jemanden im Gefängnis besuchte.
    In den fünf Wochen, seit ich aus den Katakomben getragen worden war, hatte die junge Frau, die Joanna Groves entführt hatte, ein umfassendes Geständnis abgelegt. Noch in jener Nacht fing sie auf dem Revier von Lewisham damit an und erzählte Dana Tulloch und Neil Anderson die ganze Geschichte. Wie eine Gruppe von Alkohol, Drogen und Arroganz berauschter Jungen sie als Teenager mit vorgehaltenem Messer vergewaltigt hatte. Sie erinnerte sich an jede Drohung, an jede hämische Bemerkung, jede Beleidigung, während ihr die ganze Zeit über die Schreie ihrer Schwester in den Ohren gegellt hatten. Sie erzählte den beiden, dass sie irgendwann wirklich geglaubt hatte, sie sei gestorben und dies hier sei die Hölle und dass es niemals enden würde. Manchmal, sagte sie, dachte sie das noch immer.
    Von Kollegen hatte ich gehört, dass DS Anderson ungewöhnlich blass aus dem Vernehmungszimmer gekommen war und mehrere Stunden lang mit niemandem gesprochen hatte.
    Sie hatte freimütig zugegeben, Geraldine Jones, Amanda Weston, Charlotte Benn und Karen Curtis ermordet zu haben, und dabei Kenntnisse über den jeweiligen Tathergang gehabt, über die nur der Täter verfügen konnte. Ihr Geständnis unterschrieb sie mit Victoria Llewellyn.
    Am Ende des Gefängnisflurs führte eine Tür in einen großen, hohen Raum. Die Fenster befanden sich über unseren Köpfen, waren aber trotzdem vergittert. Ungefähr zwanzig kleine Tische standen gleichmäßig im Raum verteilt. Schon ließen sich die Leute vor mir in der Schlange auf freien Stühlen nieder.
    Während der stundenlangen Vernehmungen hatte Llewellyn Tulloch und Anderson erzählt, dass sie nach dem Tod ihrer Schwester ins Ausland gegangen sei, dass sie den Umgang mit Messern und Schusswaffen erlernt habe und ein paar Jahre später zurückgekommen sei. Sie kam ohne Papiere, ohne Pass, nichts, was auf ihre Identität oder ihr Heimatland hinwies. So wird das ziemlich oft gemacht, hatte ich erfahren. Wenn Menschen, die nach Großbritannien kommen, nichts haben, womit nachgewiesen werden kann, woher sie stammen, können wir sie nicht zurückschicken.
    Nach ein paar harten Monaten hatte sie eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen und eine Arbeitserlaubnis beantragen dürfen. Sie hatte sich als Kindermädchen, als Au-pair und sogar als Haussitterin und Hunde-Ausführerin in die Londoner Gesellschaft um die St. Joseph’s School hineingearbeitet. Sie war fleißig und zuverlässig gewesen, die Familien hatten sie geschätzt. Sie war Samuel Cooper begegnet, hatte eine künftige Verwendung für ihn gesehen und war seine Geliebte geworden, hatte ihn gleichermaßen mit Sex und Drogen versorgt.
    Ich schaute zu der letzten Tischreihe hinüber. Der gegenüberliegenden Tür am nächsten saß eine junge Frau, die ihre eigenen Kleider
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