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Dunkel wie der Tod

Dunkel wie der Tod

Titel: Dunkel wie der Tod
Autoren: P.B. RYAN
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inmitten des Schweigens auf eine dramatische Enthüllung. Nell kannte diesen Trick und hielt den Mund.
    â€žIch kann mich erinnern, dass Mrs. Hewitt einmal einen Bruder erwähnt hatte“, meinte Mrs. Mott schließlich. „Oder hatte ich mich da verhört?“
    Nell atmete unmerklich auf. „Sie haben sich nicht verhört. Ich habe einen Bruder, James. Jamie. Aber ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen. Was lässt Sie glauben, die Besucher seien mit mir verwandt? Es gibt sehr viele Iren in Boston.“
    â€žAllerdings.“ Mrs. Mott rümpfte die Nase, als rieche sie etwas sehr Unangenehmes. „Aber die wenigsten sind so dreist, bei einem Haus wie diesem an die Vordertür zu klopfen, statt zur Hintertür zu kommen. Und noch weniger schaffen es, dass man ihnen sogar Tee im Roten Salon serviert.“ Schon im Gehen setzte sie hinzu: „Trödeln Sie nicht.“
    â€žWas heißt vorzeigbar?“, fragte Gracie, nachdem die Haushälterin verschwunden war. „Ist das so was wie zeigen?“
    â€žSo ähnlich“, erwiderte Nell. „Sie hat gemeint, dass du ein hübsches Kleid anziehen sollst. Aber deine Schürze ist so schön, und Nana freut sich immer, dich damit zu sehen. Deshalb bleibst du am besten so, wie du bist.“ Es war Violas Idee gewesen, dass Gracie sie „Nana“ nennen solle – in der Öffentlichkeit hätten sich gewiss zu viele Augenbrauen argwöhnisch gehoben, wenn ein so kleines Kind eine Dame fortgeschrittenen Alters „Mama“ nannte.
    Der Vorschlag schien Gracie zu gefallen, denn sie sprang sofort auf und ließ sich von Nell die Haare ordentlich flechten. „Weiß Mrs. Mott nicht, wie ich heiße?“, fragte sie weiter.
    â€žDoch.“ Nell strich einige störrische Strähnen glatt.
    â€žWarum nennt sie mich dann immer ‚das Kind‘?“
    Aus demselben Grund, weswegen sie Nell immer „die Sweeney“ nannte und Mrs. Hewitts Krankenschwester Gabrielle Bouchard „die Negerin“. Einen Menschen nicht beim Namen zu nennen, sprach ihm zugleich auch seine Würde ab. „Sie ist schon alt“, erklärte Nell Gracie und band ihr die blaue Schleife wieder ins Haar. „Alte Leute vergessen viel.“
    â€žDu bist auch alt und vergisst aber nichts.“
    â€žIch bin sechsundzwanzig. Mrs. Mott ist … mmh …“ Doppelt so alt? Dreimal so alt? „… viel älter.“
    â€žNein! Nein!“, erhob Gracie heftig Einspruch, als Nell ihren Zylinder absetzen wollte. „Wir sind noch nicht fertig.“
    â€žButterblümchen, Nana wartet unten auf uns …“
    â€žNur noch bis zu meinem Satz“, bettelte Gracie und setzte sich an den Tisch.
    â€žAlso gut. Wo waren wir …“ Nell rückte sich den albernen Hut zurecht, setzte sich wieder und begann zu singen. „Kommst in einem hohen Bogen wie ein Teetablett geflogen. Husch, husch …“
    Vom Stuhl neben sich nahm Gracie die Haselmaus, gespielt von dem mausförmigen schmiedeeisernen Türstopper, und bewegte sie sachte hin und her. Mit schläfriger Mausestimme säuselte sie: „Husch, husch, husch, husch …“
    â€žTja, und ich war noch kaum mit der ersten Strophe fertig“, fuhr Nell fort, „da brüllte die Königin schon: ‚Er schlägt ja nur die Zeit tot! Runter mit seinem Kopf!‘“
    Und nun endlich kam Gracies Lieblingsstelle, vorgetragen mit jener blasierten Unerschütterlichkeit, die einer ehrenwerten Dame aus Bostons oberster Schicht würdig war: „Wie schrecklich grausam!“, rief sie aus.
    Violas privater Salon im Hause der Hewitts – einer imposanten Stadtresidenz, gelegen an jenem als „Colonnade Row“ bekannten Teil der Tremont Street, die an den Boston Common grenzte – war ein exotisch anmutender Rückzugsort mit Antiquitäten, seidenen Stoffen und Behängen in allen erdenklichen Rottönen von Karmin und Magenta bis zu dunklem Zinnober. Die südliche Wand wurde fast gänzlich von einem japanischen Wandschirm aus dem siebzehnten Jahrhundert eingenommen, der einen schwarzen Greifvogel im Schnee zeigte, darüber einen rot unterlegten Himmel aus Blattgold. Davor saß Viola Lindleigh Hewitt auf einem ebenfalls japanischen Sitzmöbel mit prächtig geschnitzten Lehnen, das Nell wegen der hölzernen Löwenköpfe darauf nur den „Löwensessel“ nannte und
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