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Dunkel wie der Tod

Dunkel wie der Tod

Titel: Dunkel wie der Tod
Autoren: P.B. RYAN
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Gracie den „Thron“.
    Viola, eine hochgewachsene hagere Dame mit markanten Zügen und leicht ergrautem schwarzen Haar, war eine jener Frauen, die gern als „gut aussehend“ bezeichnet werden. Sie trug ein Tageskleid aus bronzefarbener Seide – wie immer ohne Krinoline – und unzählige elfenbeinerne Armreifen. Wie sie so in ihrem majestätischen Stuhl gelehnt saß, wäre man niemals auf den Gedanken gekommen, dass die Beine ihr seit einem Anfall von Kinderlähmung vor zehn Jahren den Dienst versagten. Nur die beiden faltbaren Gehstöcke mit den Griffen aus Elfenbein, die über der Rückenlehne hingen, mochten auf ihre Gebrechlichkeit hindeuten.
    â€žNana!“, jauchzte Gracie beglückt, als Nell sie in den Roten Salon führte, und kletterte sogleich mitsamt ihren mitgebrachten Puppen auf Violas Schoß, wo sie stets willkommen war und eine herzliche Umarmung nie missen musste.
    Die Besucher waren ein Paar in mittleren Jahren, dessen ärmliche Kleidung einen auffallenden Gegensatz zu dem opulenten Samtsofa bot, auf dem sie saßen. Unter der abgetragenen Haube der Frau schauten einige rostfarbene Haarsträhnen hervor. Auch ihre Nase schimmerte rötlich, ihre Augen waren rot gerändert. In der Hand hielt sie ein zerknülltes lavendelfarbenes Taschentuch, das Nell als eines von Violas erkannte.
    Sie gab dem Mann neben sich einen Stups, woraufhin der Tee in seiner Tasse auf den Unterteller schwappte. Er warf ihr einen verärgerten Blick zu. Sie schaute zu Nell hinüber und deutete mit dem Kinn auf sie, woraufhin er sich umwandte, aufsprang und den Kopf zu einer sichtlich ungeübten Verbeugung neigte. Unverkennbar ein Ire, schwarzhaarig, mit pockennarbigen Wangen und viel zu groß geratenen Ohren. Nell erwiderte seinen Gruß mit einem Nicken und lächelte ihm beruhigend zu. Er sah seine Frau fragend an – es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass die beiden ein Ehepaar waren –, und die bedeutete ihm, sich wieder zu setzen.
    â€žWas für ein allerliebstes Mädchen“, bemerkte die Frau. Nur noch schwach, von den Jahren geglättet, und doch unüberhörbar war der leicht singende Tonfall. „Ihre Enkelin, Ma’am?“
    â€žEigentlich habe ich sie adoptiert“, erwiderte Viola mit ihrer angenehmen, etwas rauen Stimme und ihrem sehr britischen Akzent. Eine mit Bedacht gewählte Antwort, schließlich war Gracie letztlich wirklich ihre Enkelin. „Ich hatte mir schon immer eine Tochter gewünscht – nur verständlich bei vier Söhnen –, und als ich mich schon mit meinem Schicksal abgefunden hatte, kam Gracie. Einer der glücklichsten Tage meines Lebens.“
    â€žAh ja.“ Das unsichere Lächeln der Besucherin verriet ihre Überraschung darüber, dass eine Dame von Stand wie Viola Hewitt ein Kind adoptierte, denn die richtige familiäre Abstammung und eine lange Ahnenreihe bedeuteten bekanntermaßen alles in der Bostoner Gesellschaft.
    Sanft schob Viola die Kleine von ihrem Schoß und wandte sie den Besuchern zu. „Gracie, das sind Mr. und Mrs. Fallon.“
    â€žSehr angenehm. Wie geht es Ihnen?“, sagte das Kind artig, das erst kürzlich seine Schüchternheit Fremden gegenüber abgelegt hatte.
    Mrs. Fallon lächelte und zeigte ihre schief stehenden Zähne. „Du bist aber ein süßes kleines Mädchen!“ Fast verwundert fügte sie hinzu: „Was für gute Manieren sie hat.“
    â€žMiss Sweeney sei es gedankt.“ Viola deutete auf den Sessel neben sich, und als Nell dort Platz nahm, sah sie sich von Mrs. Fallon über den Rand ihrer Teetasse hinweg gemustert. Nells Garderobe – ausgewählt und bezahlt von Viola – war von schlichter Eleganz, wie das modisch schlank geschnittene taubengraue Kleid, das sie heute trug. Einziger Schmuck war Nells Kette mit dem goldenen Uhrmedaillon. Ihr üppiges rotbraunes Haar hatte sie mit zwei perlmuttbesetzten Spangen, die Viola ihr vor einem Monat zum Geburtstag geschenkt hatte, zu einem Chignon aufgesteckt.
    Mrs. Fallon schien nicht recht zu wissen, was sie von einer jungen Frau mit irischem Namen halten sollte, die so elegant gekleidet war und eine Stellung innehatte, die eigentlich nur Töchtern aus guter Familie – also wohlhabend und protestantisch – offenstand, so sie sich in finanziell bedrängter Lage befanden. Nell indes war derlei Blicke gewohnt und hatte sich
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