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Dunkel wie der Tod

Dunkel wie der Tod

Titel: Dunkel wie der Tod
Autoren: P.B. RYAN
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in der heutigen Morgenvorstellung den Märzhasen spielen durfte. Verstohlen schaute sie in das Buch, das aufgeschlagen vor ihr an der Teekanne lehnte. „Da gab nämlich die Herzkönigin ein Festkonzert, und ich musste das Lied vortragen …“, sie räusperte sich theatralisch, „… ‚Husch, husch, kleine Fledermaus, warum fliegst du denn so kraus?‘ Kennst du es vielleicht?“
    â€žEs kommt mir bekannt vor.“ Gracie wusste den Text nicht nur auswendig, sie sprach ihn auch in einem bemerkenswert überzeugenden Tonfall britischer Oberschicht – eine getreue Nachahmung ihrer geliebten „Nana“ Viola Hewitt. Nell fühlte sich jedoch weniger an Viola erinnert als vielmehr an Violas ältesten Sohn William. Die Ähnlichkeit war schier unheimlich: dasselbe schwarze Haar, dieselben wachsamen Augen und das feine wissende Lächeln … Und wenn Gracie so sprach – ihr Akzent zwar weniger ausgeprägt als der von Will, der in England aufgewachsen und zur Schule gegangen war, aber doch sehr ähnlich –, lief es Nell heiß und kalt den Rücken hinab.
    â€žWir werden uns wiedersehen, Nell“, hatte er an jenem Tag auf dem Mount Auburn Cemetery zu ihr gesagt, bevor er in der bleichen Morgensonne davongegangen war. Das war nun fünf Monate her, und natürlich hatte sie ihn seitdem nicht mehr gesehen. Sehr außergewöhnliche Umstände hatten sie letzten Winter für wenige Wochen zusammengeführt, und sie konnte sich nicht vorstellen, auf welche Weise sich ihre Wege noch einmal kreuzen sollten. Dr. William Hewitt war trotz seines medizinischen Titels ein professioneller Spieler und den Drogen verfallen. Nell schien es, als habe er sich wie Opiumrauch in Luft aufgelöst, verschwunden in den engen Gassen Shanghais, und ward nie wieder gesehen.
    Der Gedanke erfüllte sie mit einer wundersamen Mischung aus Verzweiflung und Erleichterung. Es sollte sie freuen, ihn los zu sein, hatte er es doch bestens verstanden, ihre längst begraben geglaubte Vergangenheit wieder aufzuwühlen. Sie sollte Gott danken, dass er fort war, und darum beten, dass er niemals zurückkehrte.
    Ja, das sollte sie.
    â€žMiss Sweeney!“ Gracie hopste auf ihrem Stuhl herum und schlug ungeduldig mit den Händen auf das Damasttischtuch. „Du musst das Lied zu Ende singen, damit ich meinen Satz sagen kann!“ Damit meinte sie ihre Lieblingsstelle. „Ich habe gesagt, ‚Es kommt mir bekannt vor‘, und du musst jetzt sagen …“
    â€žJa, ich weiß.“ Abermals mit der Stimme des Hutmachers sagte Nell: „Es geht, wie du weißt, so weiter: Kommst in einem hohen Bogen wie ein Teetablett geflogen …“
    Ein lautes Klopfen an der Tür des Spielzimmers ließ sie beide zusammenfahren. Hart schlugen die Knöchel zweimal kurz hintereinander auf das Holz – eins! zwei! – und hallten in der darauffolgenden Stille nach.
    Gracie schnitt eine Grimasse. Auch sie kannte mittlerweile das unerbittliche Klopfen von Mrs. Mott – der schon recht betagten Haushälterin, die aber immer noch ein despotisches Regiment im Stadthaus der Hewitts an der Tremont Street führte –, wenngleich deren Besuche im Kinderzimmer glücklicherweise recht selten waren.
    Nell wollte sich gerade ihren Hutmacherzylinder absetzen, zögerte aber einen Moment und ließ ihn dann verwegen schief auf. Gracie jauchzte leise. Wie Mrs. Mott wohl reagieren würde! Es war ein aberwitzig hoher Hut, den berühmten Illustrationen John Tenniels nachempfunden, mitsamt dem großen Preisschild. Nell und Gracie hatten ihn gemeinsam an einem glücklichen, verregneten Nachmittag gebastelt – aus Mehlkleister, Kaninchendraht und einem in kleine Stücke gerissenen Daily Advertiser – und ihn dann blau und gelb angemalt.
    Schwungvoll öffnete Nell die Tür, eine Hand an der Krempe ihres Hutes, damit er ihr nicht vom Kopf fiel. „Mrs. Mott, welch seltenes Vergnügen. Treten Sie ein.“
    Ganz steif stand die Haushälterin in ihrem schwarzen Kleid da, ihre Lippen blass und schmal wie die Narbe einer alten Schnittwunde, als ihr Blick auf Nells Kopfbedeckung fiel. Mit betont regloser Miene sah sie beiseite. „Ihre Anwesenheit wird im Roten Salon erwünscht.“ Ihre Anwesenheit wird erwünscht statt Mrs. Hewitt lässt fragen, ob Sie nicht bitte zu ihr in den Roten Salon kommen könnten, wie – da war
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