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Duftspur

Duftspur

Titel: Duftspur
Autoren: Sinje Beck
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berufe mich also auf mein gefühltes Alter und 44 ist eine Zahl, die ich mir gut merken kann. Sein Alter in Jahren zu zählen halte ich ehedem für sinnlos. Die letzten Monate meiner Ehe wiegen wie Jahrzehnte und haben sich in Form von Falten und grauem Haar ein Zeichen gesetzt. Die Jahre der sogenannten süßen Kindheit, die Art Süße, die anschließend Fäulnis hinterlässt, süß vergoren und klebrig, geklebt bekam ich sie oft, kommen mir wie eine Ära nicht gelebten Lebens vor. Dagegen verringern die Glücksmomente die Zahl auf dem Zeitbarometer und bemühen sich um eine ausgeglichene Bilanz auf dem persönlichen Lebenszeitkonto. Mein kleines momentanes Glücksgefühl versucht sich nicht unterkriegen zu lassen.
    Wo ist bloß ein Großteil meiner Zeit geblieben, während ich für Maries Anschaffungen schuftete? In der Stechuhr, ganz klar, abgestochen. Mord ohne Leiche. Als mich dann der Arbeitsmarkt rauskickte aus meinem Blechschlosserdasein, wollten die Tage zunächst so gar nicht rum gehen, bis zu dem Tag, als mir mein Arbeitsamtsverwalter die Umschulung zum Werbekaufmann aufdrückte. Da hatte ich dann wieder zu tun. Lernen und wundern zu gleichen Teilen. Schon damals fragte ich mich, was das Siegerland mit dem riesigen Haufen Werbekaufleuten will, den es per Institution jährlich produzierte. Das ergibt bis heute ein geschätztes Prokopf-Werbekaufmannsaufkommen von zwei Promille auf jeden Siegerländer bis heute.
     

2
     
    Wir tanzen weiter durch die Werkstatt, vorbei an den Resten des letzten großen Auftrags für einen Gartengerätehersteller, 500 Sägeböcke und 700 Schneidbäume, vorbei an den Holzpferdchen für den kleinen Laden der Behindertenwerkstatt, vorbei auch an den Vogelhäuschen für den Park eines Altenzentrums, vorbei, vorbei, Reinhard Mey ist auch vorbei, vorbei meine 1-Euro-Beschäftigungsgelegenheit. Auch so eine Verknappung, das mit der 1-Euro-Jobbezeichnung, wo ich doch 1,30 bekomme. Bei dem knappen Zuverdienst hat man gleich passend dazu die Begrifflichkeit verkürzt. Vorbei. Ich bin ehrlich traurig! Midlifecrisis, unkte Rudi neulich und gab mir den Tipp, mir ne junge Freundin zuzulegen, noch mal so was richtig zum, na ja, Sie wissen schon – nein, das ist nichts für mich, würde meine Probleme nicht verringern. Denn seit wann werden Probleme weniger, wenn eine weibliche Komponente zusätzlich ins Spiel kommt, das geht schon rein rechnerisch nicht auf, legt man die Erfahrung und das Prinzip des direkten Dreisatzes zugrunde. Man gewöhnt sich vielleicht an dieses oder jenes, so von wegen geteiltes Leid ist halbes Leid – mir ist mehr nach gar keinem Leid, dann brauch ich auch nichts teilen.
    Rudi hat gut reden, er ist seit hundert Jahren meist glücklich mit seiner Susanne verheiratet. Der wird bei dem Rat mehr an sich gedacht haben, was Junges zum ... Stattdessen schwebe ich mit Annegret Richtung Rekorder, denn Alfons hat das Feierabendzeichen, eine Kindersirene schrillt mit blinkendem Blaulicht, gegeben. Musik aus, aufräumen, fegen, Abendbrot, noch ein wenig spielen, lesen, reden und ab ins Bett, Zähneputzen und Medikamente nicht vergessen, Licht aus und ›Hände auf die Bettdecke‹, wie Torsten immer sagt, nachdem er sein Nachtgebet gesprochen hat. Torsten, der mit 23 Jahren einem Kunstfehler bei einem sogenannten Routineeingriff betreffend eines kleinen Blutgerinnsels im Kopf zum Opfer gefallen ist, ist jetzt wieder auf seiner abendlichen Spur, er schwingt den Besen. Bille, die seit ihrer Geburt vor 45 Jahren mit drei mal 21 Chromosomen zurecht kommt, zählt die Werkzeuge, jedes an seinen Platz, und Annegret, die so unendlich traurig gucken kann, die mit 33 Jahren nach einem Verkehrsunfall für zwei Jahre ins Koma fiel und heute mit 39 das Schreiben neu erlernt, zieht mich zur Seite und zeigt mir das Wort, das sie mit dem Finger in den Staub gezeichnet hat: Schnuurbad. Schnurbart, das Stichwort, fast hätte ich es vergessen. Annegret und ich haben ein Geheimnis. Hinten in der Werkstatt in einem Restholzstapel, der so gut wie nie bewegt wird, hat eine streunende Katze drei Junge zur Welt gebracht und wir haben sie versorgt. Ich muss unbedingt noch Futter kaufen und im Versteck deponieren. Wir zwinkern uns zu, was soviel bedeutet wie Treffpunkt am Tatort, gleich nach dem Abendessen. Das werde ich zugunsten des Futterkaufs ausfallen lassen. Als ich meinen Kaffeepott mit dem Schriftzug: HH – Held der Hobel, einpacken will, halte ich inne und beschließe, ihn in der
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