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Du wirst schon noch sehen wozu es gut ist

Titel: Du wirst schon noch sehen wozu es gut ist
Autoren: Peter Cameron Stefanie Kremer
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ihren Platz.
    Eine schwache Stimme kam wie von weit her aus dem Telefon. Sie sagte:«Hallo? Hallo?»
    Über der Küche schwebte ein merkwürdiger Moment der Reglosigkeit, die Zeit schien kurz stillzustehen oder zu gerinnen, und dann hörte man die schwache Stimme wieder rufen. Diesmal klang sie enttäuscht, fast schon klagend, als hätte sie Angst, verlassen zu werden.
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Was konnte ich bloß sagen, wenn ich ans Telefon ging? Wie konnte ich reden, wenn Gillian und meine Mutter dabeisaßen und zuhörten? Aber dann wurde mir klar, dass dieser entsetzliche Moment ewig dauern würde, wenn ich nicht etwas unternahm, und das Einzige, was mir zu tun einfiel, war, den Hörer zu nehmen, und das Einzige, was mir zu sagen einfiel, war:«Hallo.»

17
    Oktober 2003
    Ich erinnere mich an ein merkwürdiges Erlebnis mit meiner Großmutter. Ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit ihr, denn es ist irgendwie gespenstisch, und ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob es tatsächlich geschehen ist. Es zählt zu meinen frühesten Erinnerungen. Ich muss ungefähr vier Jahre alt gewesen sein, vielleicht sogar jünger. Ich war zu Besuch bei meiner Großmutter - ich weiß nicht, wieso oder für wie lange, aber ich war bei ihr, und nur wir beide waren im Haus. Es war ein sonniger, warmer Tag im Frühherbst, und am Vormittag hatte meine Großmutter die Fliegengitter auf der Veranda durch Fensterscheiben aus Glas ersetzt. Und dann hatte sie die Scheiben natürlich alle geputzt, bis sie funkelten und sich das Sonnenlicht in der Veranda wie in einem Kristall verfing und brach. Jedenfalls war es ein so schöner, warmer Tag, dass wir auf der Veranda zu Mittag aßen, der Tisch, an dem wir einander gegenübersaßen, war zu den Fenstern hingeschoben worden. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was wir aßen, aber ich kann mich daran erinnern, wie ich da am Tisch saß - der Tisch war rot angestrichen -, und die durch das Glas fallende Sonne warf ein leuchtendes Quadrat auf den Tisch, auf mich. Und ich erinnere mich daran, wie meine Großmutter zu mir sagte, Warum rutschst du nicht ein bisschen zur Seite, aus der Sonne, dann ist dir nicht so heiß. Und das tat ich, ich rutschte die Bank hinunter, aus der Sonne, an jenen Teil des Tisches, der im Schatten lag, und aß weiter. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen war - es kann nicht viel gewesen sein, denn ich aß noch immer, was immer ich da aß -, als plötzlich die Glasscheibe, unter der ich gesessen hatte, aus ihrer Einfassung fiel und auf den Tisch und die Bank herabstürzte, genau dort, wo ich gesessen hatte. Und es war klar, dass sie auf mich herabgestürzt wäre, auf meinen Kopf, hätte ich noch dort gesessen. Ich erinnere mich daran, dass wir die Sache herunterspielten - wir lachten und sagten, wie gut, dass ich aus der Sonne gerutscht sei, und meine Großmutter fegte das zerbrochene Glas zusammen, und wir aßen fertig. Erst später, Jahre später, als ich mich an diesen Vorfall erinnerte, wurde mir bewusst, dass etwas Seltsames geschehen war. Etwas Wundersames. Ich weiß nicht, ob die herabstürzende Scheibe mich getötet hätte - vermutlich nicht -, aber im Nachhinein erkannte ich, dass meine Großmutter mich gerettet hatte, wenn nicht vor dem Tod, so doch vor furchtbaren Verletzungen.
    Ich hatte meine Großmutter immer nach diesem Erlebnis fragen wollen. Erinnerte sie sich daran? War es tatsächlich geschehen? Hatte sie die Nerven verloren, oder hatte sie, wie das Kind, das ich war, angenommen, dass die Liebe ganz selbstverständlich hellseherische Kräfte mit sich bringt? Aber ich habe nie mit ihr über diese Erinnerung gesprochen. Ich glaube, ich hatte Angst, dass die Erinnerung, wenn ich mit ihr darüber sprechen, wenn ich sie in Worte fassen würde, verloren gehen könnte, sich auflösen könnte, so wie manche kostbaren, zerbrechlichen Relikte aus der Vergangenheit zu Staub zerfallen, wenn man sie ans Tageslicht holt.
     
    Ich ging schließlich doch auf die Brown, und vielleicht lag es daran, dass ich von zu Hause wegging, daran, dass ich fortzog, aber ich beschloss, meiner Großmutter diese Fragen endlich zu stellen. Doch am 13. Oktober 2003, etwa sechs Wochen nachdem ich fort aufs College gegangen war, starb sie. Es stellte sich heraus, dass sie eine Reihe leichter Schlaganfälle gehabt hatte - den ersten vermutlich an jenem Tag, an dem ich sie besucht und bei dem für sie untypischen Nickerchen angetroffen hatte -,
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