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Du und Ich

Du und Ich

Titel: Du und Ich
Autoren: Niccolò Ammaniti
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im Schrank. Ich machte sie auf, nahm alle Fläschchen und Arzneischachteln heraus und steckte sie in die Taschen meiner Jacke. Als ich den Reißverschluss zuzog, hörte ich hinter mir ein Flüstern: »Lo…ren…zo… Bist du das?«
    Ich wandte mich ruckartig um. »Ja, Nonna. Ich bin’s.«
    »Lorenzo, bist du mich besuchen gekommen?« Ein plötzlicher Schmerz verzerrte ihr Gesicht. Nonna Laura hielt die Augen halb geschlossen. Sie waren verschleiert und in runzlige Falten gebettet.
    »Ja.«
    »Schön. Setz dich zu mir …«
    Ich setzte mich auf einen Metallhocker neben das Bett.
    »Nonna, ich sollte …«
    »Gib mir deine Hand.«
    Ich nahm ihre Hand. Sie war warm.
    »Wie viel Uhr ist es?«
    Ich sah zur Uhr an der Wand. »Zehn nach zwei.«
    »Morgens …« Sie bewegte sich und drückte sanft meine Hand. »Oder …?
    »… nachmittags, Nonna.«
    Ich musste gehen. Es war gefährlich hierzubleiben. Wenn die Schwestern mich sahen, würden sie es sicher meinen Eltern sagen.
    Nonna war still und atmete durch die Nase, als wäre sie eingeschlafen, dann drehte sie sich und suchte eine bessere Lage.
    »Hast du Schmerzen?«
    Sie legte eine Hand auf den Magen. »Hier … Es hört nie auf. Es tut mir leid, dass du mich leiden siehst. Es ist scheußlich, so zu sterben.« Sie brachte ein Wort nach dem anderen heraus, als müsste sie die Wörter in einer leeren Schachtel suchen.
    »Du stirbst doch nicht«, murmelte ich, den Blick auf den gelben Urinbeutel gerichtet.
    Sie lächelte. »Nein, noch nicht. Mein Körper will nicht. Er will nicht verstehen, dass es zu Ende ist.«
    Ich wollte ihr sagen, dass ich los müsse, doch mir fehlte der Mut dazu. Ich starrte die Kleider auf dem hölzernen Kleiderständer an, da waren der blaue Rock, die weiße Bluse, die dunkelrote Strickjacke.
    Sie wird sie nie wieder anziehen, dachte ich. Vielmehr: Man wird sie ihr anziehen, wenn man sie in den Sarg legt.
    Ich sah hoch zu der Lampe aus mattem Glas, die an einer Messingstange von der Decke hing. Warum war dieses Zimmer so hässlich? Wenn einer stirbt, sollte er ein wunderschönes Zimmer haben. Ich würde in meinem eigenen Zimmer sterben.
    »Nonna, ich muss los …« Ich wollte sie umarmen. Vielleicht war es zum letzten Mal. Ich fragte sie: »Darf ich dich umarmen?«
    Meine Großmutter schlug die Augen auf und deutete ein Nicken an.
    Ich drückte sie sanft, presste das Gesicht aufs Kissen und nahm den scharfen Geruch nach Arznei wahr, den vom Waschmittel des Kopfkissenbezugs und den herben Geruch ihrer Haut.
    »Ich sollte … Ich muss gehen und lernen.« Ich zog mich hoch.
    Sie fasste mich am Handgelenk und seufzte. »Erzähl mir etwas … Lorenzo. Dann denke ich nicht daran.«
    »Was denn, Nonna?«
    »Ich weiß nicht. Was du willst. Eine schöne Geschichte.«
    »Jetzt?« Olivia wartete auf mich.
    »Wenn es dir nicht passt, ist es nicht schlimm …«
    »Eine wahre oder eine erfundene Geschichte?«
    »Eine erfundene. Entführ mich irgendwohin.«
    Ich hatte tatsächlich eine Geschichte. Eines Morgens in der Schule hatte ich sie mir ausgedacht. Doch meine Geschichten behielt ich für mich, denn wenn ich sie erzählte, vergingen sie wie Feldblumen, die man gepflückt hat, und gefielen mir nicht mehr.
    Aber diesmal war es anders.
    Ich setzte mich auf dem Hocker bequemer hin. »Also, diese Geschichte … Nonna, du erinnerst dich doch an den kleinen Roboter, den du im Swimmingpool in Orvieto hast? Diesen gelb-violetten, der dazu dient, den Swimmingpool zu reinigen? Dieser kleine Roboter hat innen drin eine Art elektronisches Gehirn, das lernt, wie der Boden des Swimmingpools beschaffen ist, sodass er ihn ordentlich reinigen kann, ohne immer über die gleichen Stellen zu gehen. Erinnerst du dich an den Roboter, Nonna?« Ich wusste nicht, ob sie schlief oder wach war.
    »Diese Geschichte handelt von einem kleinen Roboter, der Swimmingpool-Putzer ist. Er heißt K19, wie die russischen U-Boote. Also … Eines Tages versammeln sich in Amerika alle Generäle und der Präsident der Vereinigten Staaten, um zu überlegen, wie man Saddam Hussein umbringt. Sie haben alles Mögliche versucht, um ihn auszuschalten. Seine Villa ist eine Festung in der Wüste, er hat Boden-Luft-Raketen, die hochsteigen, sobald die amerikanischen Raketen kommen, und sie in der Luft abschießen. Der amerikanische Präsident ist verzweifelt, denn wenn er nicht sofort Saddam Hussein umbringt, wird er entlassen. Wenn seine Generäle nicht innerhalb von zehn Minuten eine Möglichkeit finden,
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