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Du und Ich

Du und Ich

Titel: Du und Ich
Autoren: Niccolò Ammaniti
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Gebiss, und meine Eltern, die sie still ansahen, sich mit zusammengepressten Lippen gegenseitig matt anlächelten, während sie sich wünschten, dass sie möglichst bald sterben würde.
    Ich verstand nicht, warum wir sie besuchen mussten. Nonna bekam kaum mit, dass wir da waren.
    »Wir leisten ihr Gesellschaft. Das würde dir auch Freude machen«, sagte meine Mutter.
    Nein, das stimmte nicht. Es ist peinlich, gesehen zu werden, wenn es einem schlecht geht. Und wenn einer im Sterben liegt, will er allein gelassen werden. Diese Sache mit den Besuchen verstand ich wirklich nicht.
    Ich sah meine Schwester an. Sie zitterte am ganzen Leib.
    Dann. Plötzlich fiel es mir ein.
    Was war ich doch für ein Idiot. Ich wusste, wo es Medikamente gab. »Ich kümmere mich darum. Du bleibst hier, ich bin bald zurück.«

 
8
    Es fiel ein feiner Regen, und ich nahm die Linie 30.
    Zum Glück hielt der Cercopithecus gerade sein Mittagsschläfchen, als ich aus dem Haus ging.
    Ich setzte mich hinten in den Wagen und zog mir die Kapuze meines Sweatshirts in die Stirn. Ich war ein Geheimagent mit dem Auftrag, meine Schwester zu retten, und nichts würde mich aufhalten.
    Das letzte Mal, als wir meine Großmutter ins Krankenhaus brachten, hatte sie mir, kurz bevor wir die Wohnung verließen, ins Ohr geflüstert: »Schatz, nimm aus dem Nachtschränkchen alle Medikamente und versteck sie in meiner Tasche. Die verdammten Ärzte in der Klinik geben mir nicht genug gegen die Schmerzen. Aber lass dich nicht erwischen.«
    Es war mir gelungen, die Medikamente in ihre Tasche zu stecken, ohne dass es jemand bemerkte.
    Ich stieg wenige Schritte von Villa Ornella entfernt aus.
    Doch als ich vor der Klinik stand, war all mein Mut dahin. Ich hatte meiner Großmutter versprochen, dass ich sie allein besuchen würde, aber ich hatte es nie getan. Ich kriegte es nicht hin, mit ihr so zu reden, als wären wir noch bei ihr zu Hause. Und wenn ich mit Papa und Mama hingegangen war, hatte ich es als Qual empfunden.
    »Los, Lorenzo, aber jetzt schaffst du es«, sagte ich zu mir selbst und sah mich auf dem Parkplatz um. Die Autos meines Vaters und meiner Mutter waren nicht da. Mit zwei Sätzen brachte ich die Treppe am Eingang der Klinik hinter mich und durchquerte im Laufschritt die Halle. Die Schwester am Empfang hob den Kopf vom Bildschirm ihres Computers, konnte aber kaum mehr als einen Schatten auf der Treppe verschwinden sehen. Ich rannte hoch zum dritten Stock, dann den langen Gang mit den weißen und braunen Fliesen entlang. Es waren 3225. Ich hatte sie an dem Tag, als Nonna operiert wurde, gezählt. Den ganzen Nachmittag war ich mit meinem Vater im Krankenhaus geblieben, und sie war und war aus dem Operationssaal nicht nach oben gekommen.
    Ich lief am Schwesternzimmer vorbei. Dort drinnen lachten sie. Ich wandte mich nach rechts, ein lebender Toter schlurfte auf mich zu. Er trug einen hellblauen Schlafanzug mit dunkelblauen Borten. Gelocktes weißes Brusthaar schaute aus dem V der Jacke heraus. Eine blassblaue Narbe zog sich über einen Backenknochen und endete am Mund. Eine Frau auf einer Krankenbahre betrachtete das stürmische Meer auf einem Bild an der Wand. Aus einer Tür kam ein kleines Mädchen heraus, wurde aber gleich von der Mutter zurückgeholt.
    Zimmer 103.
    Ich wartete, bis mein Herz langsamer schlug, und drückte die Klinke herunter.
    Der Urinbeutel war fast voll. Das Gebiss lag in einem Glas auf dem Nachtschränkchen. Der Tropf am Infusionsständer. Nonna Laura schlief im Gitterbett. Die Lippen waren in ihren weit offenen Mund gefallen. Sie war so klein und mager, dass mir der Gedanke kam, ich könnte sie auf die Arme nehmen und wegtragen.
    Ich trat näher, betrachtete sie und biss mir innen in die Backe.
    Wie alt sie war. Ein Häufchen Knochen, überzogen von einer runzligen und schuppigen Haut. Ein Bein ragte unter dem Betttuch hervor. Es war schwarz und blau und trocken wie ein Stock, der Fuß ganz krumm und der große Zeh nach innen gebogen, als steckte ein Eisendraht darin. Es roch nach Talkum und Alkohol. Die Haare, die sie, als es ihr gut ging, immer unter einem Haarnetz getragen hatte, waren offen und fielen lang und weiß auf das Kissen, wie bei einer Hexe.
    Vielleicht war sie tot. Doch auf ihrem Gesicht lag nicht der Frieden von Toten, sondern ein leidender und harter Ausdruck, als flösse ein Strom des Schmerzes durch ihren Körper.
    Ich trat ans Fußende des Betts und deckte ihr Bein mit dem Betttuch zu. Ihre Wildledertasche stand
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