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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
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nicht in die Augen schauen.
Na ja, eigentlich möchte sie aber doch wissen, wer sie sind. Sie lächeln, reden leise miteinander, über ihren Kopf hinweg. Sie überlegt. Möchte den, der links von ihr steht, bitten, ihr das --- ein Stück tiefer zu ziehen, damit es mehr im Kreuz liegt, aber sie findet das verdammte Wort nicht, wie heißt das denn nur? Sie macht den Jungen Zeichen, allen beiden, was sie möchte, nämlich dass sie ihr das --- ein Stück tiefer ziehen. Sie scheinen sie nicht zu verstehen.
Womit hat sie ihnen eigentlich Zeichen gegeben? Mit den Händen? Die linke Hand liegt fest, ein Schlauch steckt darin. Ist sie etwa immer noch am Netz, wird sie etwa immer noch ferngesteuert? Sie möchte die Angst mit der rechten Hand mitteilen, aber die liegt einfach da und lässt sich nicht bewegen. Seltsam. Warum kann sie die Hand nicht bewegen? Bestimmt haben die über das Netz alle ihre Bewegungen unter Kontrolle.
Und die Jungen? Gehören die zu den Netzbetreibern? Sie sieht sie sich nun doch genauer an. Erleichterung: Die kennt sie. Es sind ihre Söhne. Deren Namen wollen ihr zwar nicht einfallen, aber das macht jetzt nichts. Sie glaubt, sie lacht. Ihre Söhne! Warum hat sie die beiden denn nicht früher angeschaut? Dann hätte sie doch schon viel länger ihre Freude gehabt! Einer von ihnen studiert. Wo studiert er eigentlich? In Weimar. Oboe. Ja, Oboe. Der Oboensohn hält ihr eine CD vor die Nase, selbst gebrannt, irgendetwas steht darauf, sie kann es aber nicht erkennen. Er schiebt die CD in ein kleines Gerät und ihr die Kopfhörer ins Ohr. Ahhh, das tut gut, das ist aber schöne Musik. Oboe. Bestimmt sieht sie selig aus, muss sie denken.
Jetzt denkt sie also darüber nach, wie sie aussieht. Wie sieht sie aus? Sie weiß es nicht mehr, sie hat kein Bild von sich. Die haben ihr das Bild von sich geklaut! Das ist die Vorhölle, die vor der richtigen Hölle kommt, und die richtige Hölle kommt nachts, wenn es dunkel ist. Irgendwie müssen ihre Söhne das aber wissen, die dürfen sie nicht hierlassen, nicht einfach wieder weggehen! Hört ihr? Hallo, wo seid ihr? Sie schaut auf, erschöpft: Die Jungen sind weg. Ahnen nichts von der Gefahr.

Eine blonde Frau tritt hinzu und hantiert an etwas herum, das neben ihr steht. Sie versucht, den Kopf wenigstens ein bisschen zu drehen. Die Blonde schaut sie böse an, aber sie schafft es und sieht eine Vielzahl von übereinandergestellten Monitoren. Die Blonde hält einen Beutel schlammfarbenen Breis in der Hand. Sie hängt den Brei an einen Haken und befestigt einen Schlauch daran. Mittagessen , sagt sie und lacht.

Nein, sie mag die Blonde nicht. Die Blonde mag sie nicht. Sie mag die junge Frau, die so unentwegt redet. Dunkle Haare hat die. Wenn sie kommt, geht die Angst. Mit der Blonden kommt sie wieder. Kommen und Gehen. Zwischen der Blonden und der Dunklen gibt es noch einen Mann. Eben hat der ihr die Scheiße abgewischt. Das war peinlich. Sie weiß einfach nicht, was da unten los ist. Was ist da unten nur los? Ah, da kommt der Mann ja wieder. Nimmt die Decke beiseite und ihre Beine auseinander. Halt, das dürfen Sie nicht! Halt! Aber er lächelt, wie sie hier immer alle lächeln, diese Verbrecher. Wäscht er sie? Er wäscht sie. Das ist eigentlich angenehm, sie könnte ihren Widerstand aufgeben. Er bemerkt ihren Widerstand sowieso nicht, oder? Lässt sie sich also waschen. Warum die sie das nicht selbst machen lassen, will sie lieber nicht so genau wissen. Bestimmt wollen sie saubere Leichen nach der nächsten Nacht. Nicht solche beschissenen Blutpuppen. Sie blutet nämlich. Die Windeln waren voller Blut. Es tut aber nichts weh. Wird nicht so schlimm sein, dass sie blutet. Welches Datum haben wir eigentlich? Keine Ahnung. Irgendwie ist ihre Tochter doch neulich zur Sprachreise gefahren. Das war der zehnte Juli. Aber sie war am gleichen Tag ja schon wieder da! Wenn sie es sich genau überlegt, versteht sie es nicht. Haben wir den fünfzehnten oder sechzehnten Juli? Ja, wahrscheinlich. So ungefähr.
Ob es die Regel ist? Sie kommt zu keinem Ergebnis. Wann war die letzte Regel? Sie erinnert sich daran, wie ihr Vater vor fünfunddreißig Jahren ausgesehen hat, weiß aber nicht, wann sie die letzte Regel hatte.
Jetzt zieht der Mann ihr eine neue Windelhose an.
Sie will schlafen.

Nachts wieder ein großes Gewusel, drunter und drüber, Betten quietschten, Karren karrten, bestimmt sind sie mit dem Abtransport der Leichen gar nicht mehr klargekommen. Jetzt weiß sie nämlich, was
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