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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
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erklärt und mit Matthes’ Schnarchen. Das war wirklich sehr laut, hatte sie aber nie gestört. Auf einmal stört es sie, dass sein Schnarchen nicht bis hierher dringt, sie möchte es hören, jetzt, sofort! Zwar sah er zweifellos jugendlich aus neulich, aber in Wirklichkeit altert er. Die Muskelzüge in seinem Gesicht sehen schlaffer aus als noch vor fünf Jahren. Der Rücken rundet sich oben immer stärker, und wo früher sein Bauch sehnig glänzte, wölbt er sich heute ganz leicht vor und zieht Ansätze von Speckwülstchen um die Hüften nach sich. Die Verschlussknöpfe der 46 er-Hosen lassen die Knopflöcher einreißen, die sie mit der Nähmaschine wieder festzurrt. Festzurrte. Er muss nähen lernen oder die Hosen eine Nummer größer kaufen.
Ihre Fürsorglichkeit nervt.
Wie soll sie ihn ansehen mit dem wiedergekehrten Wissen im Hals?

Einfach keine Zeit, mit dem Laptop zu ordnen. Dabei ist jedes Wort eine richtige Sandkohlroulade. Als kleines Mädchen hat Helene oft stundenlang allein im Sandkasten gespielt und Kohlrouladen gewickelt: Nassen Sand in Ahornblätter eingeschlagen, die zum Schluss mit dem Stiel durchbohrt wurden, damit sie nicht aufgingen. Mit der Zeit hatte sie die Fertigkeit des perfekten Wickelns erreicht. Die Rouladen hatte sie angestaunt und nach Schönheit geordnet. Ging sie am Abend ins Bett, lagen große Haufen von Sandkohlrouladen vor ihren Augen, wenn sie sie schloss. Diesen Stolz findet sie wieder mit jedem Wort, das aus ihrem zerschnittenen und zusammengetackerten Gehirn auf den Bildschirm leckt. Aber sie kommt kaum dazu. Ergo, Physio, Logo, Psycho – die Heilverfahren werden hier nur beim Vornamen genannt, jeder weiß, dass sie allesamt Therapie heißen, und allesamt stehlen sie Zeit. Sie zupft Zeit aus der Dunkelheit, wenn die drei Zimmernachbarinnen schlafen, oder sie fährt am Tage im Rollstuhl hinunter aufs Freigelände, den Laptop an die Seite geklemmt. Leider ist er alt und schwach, der Akku spielt nur noch kurze Zeit mit. Dabei weiß sie doch längst, dass sie längere Zeiten, als der Akku hergibt, sowieso nicht schafft.

Helene sitzt im Schatten der Linden und ist froh, dass niemand sie besucht. Das Mittagessen ist vorbei. Es gab Königsberger Klopse. Die Kapernsauce hinterließ nach dem Schlucken eine pelzige Anmutung auf der Zunge. Sie kennt das aus Großküchenzeiten, nannte es früher Zungenratte. Die Zungenratte bleibt noch eine Weile, lässt sich nicht so leicht vertreiben. Aber Matthes hatte ihr doch Kaugummi mitgebracht, als er gestern da war – sie wühlt die Trainingshosentasche durch und findet ihn tatsächlich. Nicht leicht, ihn auszupacken. Die Linkshand fingert ungelenk, obwohl das Empfinden sie als geschickt durchgehen lässt. Na so was …
Sie sitzt und kaut. Scharfer Pfefferminzgeschmack fegt den Rachen frei. Der Laptop bleibt zugeklappt in der Tasche. Wollte sie nicht ordnen? Sie ordnet ohne Laptop, will eine Liste in ihrem aufgebohrten, zersägten, wieder zusammengefügten Kopf aufsetzen, und sie kommt ihr erst einmal ganz normal vor. Eine normale, vorschriftsmäßige Liste. Links sollen die Schlüsselwörter stehen, rechts, was sie darunter versteht. Es fällt ihr schwer, auf Anhieb etwas zu verstehen, deshalb wird sie für die rechte Seite viel länger brauchen als für die linke. Links trägt sie das Wort Liebe ein. Rechts die Namen von Männern? Nein, sie lacht, rechts sollte stehen, woran sie sich erinnert, wenn sie das Wort Liebe in den Mund nimmt. Im Moment nimmt sie aber eigentlich gar nichts in den Mund. Sie lässt auch nichts aus dem Mund heraus. Alles spielt sich woanders ab. Sie versucht sich die Hirnregionen vorzustellen. Leider weiß sie noch nicht einmal, wo das geplatzte Aneurysma gesessen hatte! Aber gesessen hatte es, so viel steht fest.
Wo war sie stehen geblieben? Bei der Liebe. Ein Gefühl. Es sorgt dafür, dass das Blut schneller kreisläuft. Denkt sie Liebe, denkt sie sich heiß und rot. Denkt daran, wie matthessüchtig sie war. Wo ist das hin, wo geblieben? Irgendwo muss es doch sein! Sie ärgert sich, dass sie es nicht findet in ihrem Kopf. Dass es sich nicht greifen lässt. Es bewegt sich hinter weißen Laken, die im Hirn flattern, als ginge da Wind. Was für ein Wind sollte im Hirn gehen? Hirnwind? In den Hirnwindungen? In die Hirnwindrichtungen? Mit solchem hirnwindrichtungsweisendem Getöse wird alles Fassbare unfassbar, sie verzweifelt, möchte den Laptop wegschleudern, bekommt ihn aber in der Aufregung gar nicht aus seiner
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