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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
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Ich sah euch kommen. Ich freue mich auf zu Hause. Ihr seht gut aus. Du trägst ein schönes Hemd. Deine Haare sind grau geworden. Du bist geschrumpft.
Du bist geschrumpft? Sie weiß nicht, warum und zu wem sie das sagte, aber Ernestine hat es auf dem Fahrersitz nicht gehört, und Jürgen fragt nach.
Hä? Was bin ich? Betrunken?
Neinneinnein, Jürgen hat Alkoholentzug und eine lange Therapiephase hinter sich und ist seit vielen Jahren trocken. Bestrumpft , fällt ihr ein, sie schaut an Jürgen herab, und in der Tat trägt er Ringelsöckchen zu den kurzen Hosen.
Bestrumpft, du bist bestrumpft!, wiederholt sie inständig, und Jürgen rattert los. Spricht so schnell, dass, wenn sie den Satz nach dem Subjekt durchforstet hat in Gedanken, Objekt und Prädikat unwiederbringlich verloren sind für sie. DieStrümpfedasHemddieHitzederFußpilzdieHände-
dieFüßedieHolzpantoletten. Mager. Sie zuckt die Schultern, als Jürgen sie fragend ansieht. Wird rot.
Das war zu schnell für mich , sagt sie langsam.
Dann spreche ich langsam , sagt Jürgen schnell.

Alle stehen an der Gartentür und erwarten sie. Sogar Familie Farber von nebenan und Suschkes, deren Haus auf der vorderen Grundstückshälfte steht. Viele Hände schütteln ihre linke, Frau Suschke gibt ihr als Einzige die linke Hand. War Oberschwester in der Uniklinik, kein Wunder.
Helene sieht ihre Kinder, alle fünf, und kann es nicht fassen, dass so viel Fleisch in ihr Platz hatte. Sieht sich aufgehen wie einen Hefekloß, aber Matthes knetet sie schnell zusammen, indem er sie gar nicht mehr loslassen will. Sie erinnert sich daran, dass sie früher klein werden und in seine Achsel rutschen wollte bei unangenehmen Anlässen. Vor dem Staatsexamen. Vor diversen Vorstellungsgesprächen. Dass sie aber recht groß und dick war und ihr das vor solch unangenehmen Anlässen immer doppelt bewusst wurde. Einmal angesichts der Unmöglichkeit, in seiner Achsel Asyl zu suchen, zum anderen aber als nachteiliger Begleitumstand: Prüfer und Arbeitgeber hatten womöglich mit Großen und Dicken nichts am Hut, sodass sie regelmäßig mit eingezogenen Schultern und flatterigen weiten Kleidern am Ort des zu Erwartenden erschien. Polster verstecken war angesagt. Aber ihre schwarze Hose, merkt sie gerade, ist ziemlich weit geworden in den letzten Wochen …
Im Haus gibt es Quarkkuchen. Matthes hat gebacken. Helene isst seinen Kuchen so gern, wie er ihn bäckt, eigentlich, aber bekommt nur ein halbes Stück hinunter. Matthes reagiert seltsam, schickt die versammelte Mannschaft auf einen Spaziergang, so ungefähr eine Stunde!, und bringt sie ins Bett. Ehe sie sich’s versieht, ist er über ihr, reißt ihr die Kleider herunter, sie hat keine Lust, sie fühlt sich invalide , stammelt, möchte es ihm sagen, doch körperlich hat sie ihm nichts entgegenzusetzen. Sie denkt an die vielen Wochen, die er ohne das auskommen musste. Ungläubig liegt sie da, unfähig, ein Wort zu sagen. Langsam steigt etwas in der linken, der intakten Körperhälfte auf, das sie zu kennen meint: Abwehr. Sie traut sich nicht, sie zum Einsatz zu bringen. Matthes küsst sie ausgiebig.
Sie weint.
Bestimmt denkt er, sie sei glücklich.
Denkt sie.

Matthes geht den anderen entgegen, schiebt sie im Rollstuhl. Der Kinderwagen für die jüngste Tochter hatte einen Schwenkbügel, man konnte einstellen, ob man ihr ins Gesicht schauen wollte, während man fuhr, oder ob man ihr den Blick in die Welt freimachte. Matthes entschied sich meist für Augenkontakt mit der Jüngsten, Helene für den Weltblick. Jetzt ist sie froh, dass es diese Entscheidung beim Rollstuhl nicht gibt. Womöglich wäre Matthes auf Augenkontakt aus.
Ihre Tränen haben salzige Krusten hinterlassen, die sie wegzuwischen trachtet. Das reicht nicht. Sie kratzt mit den Fingernägeln das Salz von der Haut. Hat sie das eben wirklich erlebt, oder war es einer von ihren undefinierbaren Träumen? Sofort kommt Verzweiflung auf, weil sie das nicht entscheiden kann. Ihr Gesicht zu einer unansehnlichen Fratze verzogen vom Versuch, das erneute Heulen zu unterdrücken. Sie kann den Mund nicht schließen. Schaut nach unten, auf ihre Beine in den schlackernden Hosen. Speichel fädelt Sonnenlichtperlen auf. Die Schnüre ziehen sich in die Länge, bis sie im schwarzen Hosenstoff in noch schwärzeren Flecken enden. Sie will sie zerreißen und wegwischen, aber da hat sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Weil sie kein Taschentuch hat, gibt es nichts, was sie aus der Welt schaffen könnte.
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