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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
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mit Dingen, die sie tun möchte. Zum Beispiel mit links schreiben. Dazu brauche sie einen Stift und Papier.
Matthes sagt, Helene solle Gedichte versuchen. Stift und Papier hat er dabei.
Gedichte? Wie geht das? Sie kann es sich einfach nicht vorstellen.
Zwischen einem möglichen Gedicht und Helene Wesendahl gähnt ein Loch. Ein schwarzes.

In das Viererzimmer ist die vierte Person eingezogen. Eine alte Frau nach einem Schlaganfall. Die nimmt die Dinge ebenso lustig wie sie. Zum Taschentuch sagt sie Zitrone und zum Mittagessen Mülleimer. Sie ist helle im Kopf und möchte nach Hause zurück, in ihre Wohnung. Es geht nur noch darum, sie medikamentös einzustellen mit Blutverdünnern, damit nicht bald wieder ein Schlaganfall droht. Sie ist klein und zierlich, macht einen sportlichen Eindruck. Sie wechseln sich im Wachen über Frau Bandners Scheißattacken ab. Wenn keiner wacht, stinkt es so sehr. Mit ihr kann Helene frühmorgens schon sprechen, wenn es am besten geht. Sie rät gut und ist voller Verständnis, weil es ihr ja so ähnlich geht. Im Aussprechen von Zitronen und Mülleimern merkt die Frau nicht, was sie falsch gemacht hat. Wenn man sie wiederholt, schon.
Noch immer hat Helene keine Literatur über Aphasien. Vielleicht gut so? Dafür hatte sie den ersten Termin bei der Logopädin. Lange Testreihen hat die mit ihr veranstaltet. Schwamm drüber. Da kann sie sich selber besser helfen.

Sobald Matthes kommt, wird sie ruhig und friedlich. Als hätte er einen Magneten in der Tasche, der alle Verwirrung von ihr abzöge. Sie beobachtet Matthes, ob ihm die Hosentasche aufquillt, weil ihre Unruhe dort einzieht. Vielleicht hat er den Magneten gar nicht in der Hosentasche, sondern in Jacke oder Hemd! Er zieht die Jacke aus, legt sie über den Stuhl. Sie fasst Matthes mit der linken Hand, seine Hände, seinen Kopf. Seine Beulen. Ja, ihre Hand erkennt sie wieder, geht darüber hin wie über vertrautes Gelände. Sein Schädel erinnert an einen Truppenübungsplatz mit Gräben, Gruben und Hügeln. Das noch immer sehr dunkle Haar ist lang. Man sieht keine Beulen, sondern glaubt einen normalen Rundschädel vor sich zu haben.
Ihre Hand wandert über seinen Rücken, als er sie umarmt. Das Hemd ist nass, es ist sehr warm draußen. Auch in die Hemdtasche fasst sie, als er sich lösen will. Kein Magnet. Bleibt nur die Jacke, die sie verstohlen beobachtet.
Was ist mit meiner Jacke?, fragt Matthes.
Magenta , sagt sie.
Magenta. Eine Farbe. Sie hat es ausgesprochen, als träumte sie davon.

Wovon träumt sie eigentlich?
Helene kann Tag- und Nacht- und Koma- und Narkoseträume nicht unterscheiden. Ganz nah geht ihr ein Traum, den sie als Erlebnis bezeichnen muss, weil sie ihn als Erlebnis im Gedächtnis hat. Sie sitzt in einem zugigen Plattenbauviertel im Garten einer Stadtteilkneipe, vor ihr ein riesiger Innenhof mit halbhohen Pappeln, Gesträuch und einem kleinen Teich, der an der tiefsten Stelle des hügeligen Geländes liegt. Es zieht wirklich, der Wind pfeift, sein Biss tut ihren Ohren weh. Eine Horde von Schlägertypen rollt heran, glatzköpfige Widerlinge, die in ihr in gleichem Maße Mitleid und Abneigung auslösen. Mitleid und Abneigung. Mitleid und Abneigung. Zwischen diesen beiden Gefühlen ist gar kein Platz mehr für sie, sie muss sich klein machen und sich irgendwie verdrücken, aber da haben sie sie schon entdeckt. Witze reißend, kommen sie näher. Sie nippt wie gelangweilt am Cappuccino und schaut zum Teich, als sie sie plötzlich sieht: Kröten, Olme, Salamander, Frösche in herrlichen Erdtönen, aber mit indisch aussehenden Gesichtern. Sie lächeln breit, sind menschengroß und kommen langsam näher, ihre von warzigen Hautbildungen überzogenen Wangen und Stirnen sind olivbraun, ihre Augen dunkel, und sie tragen allesamt langes, schwarzes Haar. Als der Anführer der Schlägerhorde in jene Richtung schaut, in die sie so angespannt blickt, erschrickt er, schreit auf, seine Kameraden drehen sich überrascht um, und als sie die ruhig daherschreitenden Indiolurche sehen, laufen sie überstürzt davon. Die Amphibien ziehen gemächlich am Kneipengarten vorbei, nur eine einzige Krötenfrau setzt sich zu ihr an den Tisch und schaut sie freundlich an, ihre Zunge schnellt hervor, fängt eine Fliege, sie lächelt ihr zu, sie erinnert sie an Jayashree. Jayashree hat sie im vergangenen Jahr in Kalkutta erlebt, eine Deutsch lernende Lehrerin mit Auswandererillusionen, die in ihrer gutwilligen Klebrigkeit nicht eben leicht zu nehmen
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