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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
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ist. Helene will mit ihr sprechen, fürchtet aber die Fragen, ob sie ihr das Geld zu einem Besuchsflug nach Deutschland geben, ihr dieses und jenes Buch von Christa Wolf oder einfach einen Karton voller Kaffee schicken kann. Zum Glück fällt ihr wieder ein, dass es sich ja gar nicht um Jayashree, sondern einfach um eine Kröte mit Jayashrees Zügen handelt. Sie fragt freundlich nach ihrem Namen. Es folgt ein sehr lautes, rülpsendes »Quaaaak«, eine leichte Verbeugung, und sie zieht den anderen hinterher, macht Sprünge, um sie zu erreichen. Helene sieht sie alle um die Ecke des gegenüberliegenden Blockes ziehen und ist froh, dass sie ihr die Schläger vom Hals gehalten haben.

Beim Frühstück im Gemeinschaftsraum sitzt Helene meist einem jungen Mann gegenüber, dessen spastische Lähmung ihn daran hindert, allein zu essen. Zwar bemüht er sich sehr, das Brötchen auf dem Nagelbrett zu behalten und mit der anderen Hand das Buttermesser darüberzuziehen, aber es gleicht einem Glücksspiel, ob er es mit dem Messer trifft. Meist hilft ihm jemand, was er unwillig zu kommentieren versucht. Aus seinem verzogenen Mund tropft Speichel. Große Narben verunstalten seinen rasierten Schädel. Jemand hat erzählt, dass er ihn kenne, er hätte bis vor Kurzem das »Essen auf Rädern« ausgefahren von Kaulsdorf bis Köpenick. Sie ist angewidert von der Vorstellung, jemand mit Speichelfaden liefere ihr ein Fertigmenü. Außerdem wird er die Assietten ja kaum halten können. Während sie noch nachdenkt, sieht sie sich in der Spiegelfront der Schrankwand. Ach ja, ihre rechte Hand kann ja auch nichts mehr halten! Sie wird nicht mehr Klavier spielen können, nicht nähen oder stricken, und das Gesicht sieht auch anders aus als noch vor einem Monat. Hoch ausrasiert links, wächst erster Haarflaum nach, sie sieht seltsam aus, und, da!, auch aus ihrem Mund tropft Speichel.

Heute versucht sie, eine Mail zu schreiben. Es dauert, bis die linke Hand die Finger an die richtigen Stellen setzt. Eine Beruhigungsmail an Carla. Matthes sagt, sie hätte Carla besuchen wollen einen Tag nach dem Platzen des Aneurysmas. Mit Lottchen ICE fahren … Nach fünf Sätzen ist sie erschöpft und zufrieden. Versucht sich zu vergegenwärtigen, wie sie die Mails auf eine Diskette kopieren kann, die sie Matthes mitgibt. Auch das dauert. Zu Hause wird er sie über seinen Computer verschicken. Als sie sich einigermaßen aufgeräumt zurücklehnt, taucht plötzlich das Bild der Korkwand in der Karlshorster Küche auf. Ja, die Karten für die Fahrt zu Carla waren mit einer Reißzwecke festgepinnt, fällt ihr ein. Sie rekonstruiert: daneben eine lange Aufstellung wichtiger Telefonnummern, zwei Holzhampelmännchen, eine Visitenkarte von Mr. Nagarajan aus Bangalore, der ihr seit über einem Jahr einen Artikel schicken will. Sie lacht. Darunter – die Liste mit Dingen, die sie mitzunehmen gedachte.
Sie lacht nicht mehr.
Sie hatte vor, auszuziehen.
Jetzt, da es ihr einfällt, liegt auch die linke Körperseite starr und steif. Eine Pfefferkuchenfrau. Wenn ein Pfefferkuchen Wasser abbekommt, verliert er an Härte. Sie fängt auf der Stelle an zu schwitzen, produziert das Wasser selbst, das sie aufweichen soll.
Was ist mit Ihnen? Haben Sie Fieber?
Die Schwester. Helene hat ihr Kommen nicht gehört in der Schreckstarre. Mit einem kühlen, feuchten Tuch fährt die Schwester über ihr Gesicht, nachdem sie mit der Hand ihre Temperatur geprüft hat.
Ihr wird schlecht. Gewundene Sinne, denkt sie, als sie wieder zu sich kommt. Das s-c-h lässt sie in einem hörbaren Seufzer einfach allein los.

Der Gedanke an Abschied von Matthes frisst ihre Luftröhre von innen her auf. Trennung …
Ja, Matthes wohnte oben in seinem Zimmer, sie schlief unten im ehemals gemeinsamen Bett. Die Dinge hatten sich wohl so weit geordnet, dass ihr Weggang für ein paar Monate hätte funktionieren sollen. Monate, in denen sie herausbekommen wollten, ob noch etwas zog? An ihren vierundvierzigsten Geburtstag hatte sie nicht denken können, deshalb war er ausgefallen. Wenn sie zusammen gewesen waren, hatte verdrießliche Stummheit allen Tagen die Spitzen abgebrochen, dass keiner über den anderen hinausragte und sie aufpassen mussten, dass sie sie in ihrer Gleichförmigkeit nicht platt drückten. Zwei Kinder wohnten schließlich noch zu Hause. Lottchen hatten sie noch nichts davon gesagt, aber Mareile dachte wohl richtig. Ihre getrennten Schlafzimmer hatten sie mit unterschiedlichen Schlaf-Wach-Rhythmen
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