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Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)

Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)

Titel: Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Autoren: Katharina Saalfrank
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und staatlichen Institutionen andererseits. Diese Tatsache hat zu einem gewaltigen gesellschaftlichen Innovationsstau geführt. Die Wissenschaften, die sich letztendlich alle mit der Entwicklung und dem Wachstum von Menschen beschäftigen, scheinen jeweils ein Eigenleben zu führen, anstatt gemeinsam in eine Richtung zu wirken. Daher finden die Erkenntnisse der einzelnen Disziplinen kaum Wege in die praktische Anwendung.
    Kein Wunder also, dass entwicklungsgerechtes Verhalten von Kindern immer wieder falsch bewertet wird. Ein Beispiel aus meiner Beratungspraxis:

Wir haben ein Problem mit unserem vierjährigen Sohn Linus. Er besucht seit zwei Jahren die Kita in unserem Ort. Gestern hat mich die Erzieherin angesprochen und mir mitgeteilt, dass unser Sohn aus der Gruppe ausgeschlossen werden müsse. Das Problem: Er sei aggressiv und habe sich nicht unter Kontrolle. Er gehe auf andere Kinder los und störe so die Gruppe und den Ablauf bei gemeinsamen Aktivitäten. Wir wissen, dass Linus sich manchmal ärgert. Vor ein paar Monaten kam es zum Streit mit seinem besten Freund. Dabei ist er gestürzt und hat sich selbst in der folgenden Rangelei die Nase aufgeschlagen, was ihn wohl sehr wütend gemacht hat. Denn dann gab es mit einem anderen Jungen Ärger, sie haben sich gestritten und am Boden gebalgt. Die Mütter dieser beiden Jungen finden das nicht toll, das ist klar. Würde ich auch nicht. Allerdings sind es andere Mütter aus der Gruppe, die jetzt für Aufruhr sorgen. Ich will unseren Sohn nicht in den Himmel loben, aber er ist ein herzensguter, lustiger kleiner Mensch. Das sagt selbst die Erzieherin. Es ist alles so widersprüchlich. Aber wie bekommt man das aus ihm raus? Die Erzieherin meinte, wir müssen die Aggression aus ihm rausbekommen, sonst habe er in der Schule später nur Probleme. Und die geht ja auch schon bald los. Haben Sie einen Tipp, was wir machen können? Ich bin so ratlos und mache mir große Sorgen. Das macht mich alles so fertig.

    Linus’ Geschichte ist ein typisches Beispiel dafür, dass entwicklungsgerechtes Verhalten von Kindern etwa von Erziehern nicht erkannt wird und deshalb nicht konstruktiv darauf reagiert werden kann. Deutlich wird hier die Haltung der Erwachsenen: Diese Gefühle darf ein Kind nicht haben; und wenn doch, dann nicht hier! Sein Verhalten ist nicht erwünscht, und das Kind wird ausgegrenzt.
    In der Erziehung spielten noch vor gut sechzig Jahren Gefühle kaum eine Rolle. Sie wurden in der Regel unterdrückt. Heute wissen wir, dass Menschen hierdurch in ihrer emotionalen Entwicklung gehemmt werden und in der Folge Störungen entwickeln können. Vielfältige wissenschaftliche Studien belegen, dass das Verleugnen und Wegdrücken von Gefühlen den Menschen krank machen.
Kindern ihre Gefühle lassen
Durch sein Verhalten fällt Linus zwar in dieser Gruppe auf, es ist aber keineswegs unnormal! Im Gegenteil. Linus macht hier wichtige Erfahrungen mit starken Emotionen. Er streitet sich, wird wütend und zeigt seine Aggression. Langjährige Entwicklungsforschung hat gezeigt und auch Praxiserfahrungen aus der Therapie haben ergeben, wie wesentlich es für uns Menschen ist, dass wir unsere Gefühle wahrnehmen und einen Zugang zu ihnen entwickeln können. Dabei geht es nicht nur um die positiven Gefühle wie Freude, Begeisterung und die Fähigkeit, Glück zu empfinden. Es geht darum, die gesamte Bandbreite und eine vielfältige Palette von Gefühlen kennenzulernen. Wir brauchen also auch Erfahrungen mit den sogenannten negativen Gefühlen: Trauer, Enttäuschung, Schmerz, Wut, Aggression. Es ist wichtig, dass wir sie erfahren, dass wir sie verbalisieren und sie ausdrücken können.
    Aber Menschen können Aggressionen doch nicht einfach ungefiltert ausagieren, wird der eine oder andere einwenden. Der Begriff »Aggression« ist von dem lateinischen Wort für »herangehen, angreifen« abgeleitet. Aggressionen an sich sind wichtig, sie bringen uns zu Hochleistungen, etwa im Sport. Wer beispielsweise bei der Olympiade die Sportler im Fernsehen bei der Zeitlupenwiedergabe genau beobachtet, kann erkennen, wie sich Aggressivität in den Gesichtern spiegelt und in Energie verwandelt, die den Athleten nach vorn bringt.
    Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, Aggressivität führe unweigerlich zu Gewalt. Deshalb meint man, Kinder sollten schon frühzeitig lernen, Konflikte ausschließlich verbal zu klären. Dies bedeutet für sie jedoch häufig eine absolute Überforderung. Für eine solche
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