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Dritte Halbzeit: Eine Bilanz (German Edition)

Dritte Halbzeit: Eine Bilanz (German Edition)

Titel: Dritte Halbzeit: Eine Bilanz (German Edition)
Autoren: Waldemar Hartmann
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war deswegen oder warum auch immer verbittert. Der hat sogar noch zugeschlagen, wenn es pressiert hat. Das war Guantanamo auf Fränkisch, der hat mit Schlüsselbunden geworfen, und zwar so treffsicher, dass er dich an der Birne getroffen hat. Latein, die Sprache der Humanisten – dass ich nicht lache!
    Immerhin: Im Turnen, in der Leibeserziehung war ich gut. Und ein anderes Talent ist auch früh zutage getreten: Als ich das Realgymnasium doch irgendwann unehrenhaft verlassen musste, hat mir der Biologielehrer Schuster mit auf den Weg gegeben: »Hartmann, mit deiner Schlebbern brauchst kein Abitur. Aus dir wird was, mach dir keine Sorgen.« Schleb bern – das war tiefstes Mittelfränkisch für eine große Klappe. Eine wegweisende Aussage. Der Biologielehrer Schuster war damals der Einzige, der mir ein bisschen Mut gemacht hat.
    Ich war ein dermaßen fauler und deswegen auch miserabler Schüler. Meine Hausaufgaben haben in der Straßenbahn vorne stattgefunden, auf dem Weg vom Bahnhof zum Rathenau platz, wo die Schule war. Oder in der Pause zwischen zwei Stunden. Zur Höchstform bin ich aufgelaufen beim Entwickeln eines Systems zur kräftesparenden Hausaufgabenerstellung. Für jedes Fach hatte ich meinen Haus- und Hoflieferanten – einen für Mathematik, einen für Physik und noch einen anderen für Latein.
    Das funktionierte aus einem Grund prächtig: Zum Dank durften die Burschen bei uns in der Turnhalle, in »meiner« Turnhalle, in der Schule, an der mein Vater herrschte, Fußballspielen. Dort habe ich große Turniere veranstaltet, in einer nagelneuen Turnhalle, mit neuen Bällen, mit echten Toren – das war das Größte, ein Paradies. Waldi war der König von Nürnberg. Ich hatte das mittelfränkische Camp Nou unter meiner Verwaltung, und ich musste keine Hausaufgaben mehr selber machen … Da lag ich ganz weit vorne mit elf, zwölf, dreizehn Jahren. Meinem Vater war es recht, wenn wir dort spielten, dann war ich wenigstens weg von der Straße. Er kannte allerdings nicht den Deal, der dahintersteckte.
    Ich hatte mir also früh eine gewisse Selbstständigkeit geschaffen, die durch zwei Faktoren noch verstärkt wurde: Ich bekam endlich ein Fahrrad. Und ich fuhr 1959 zum ersten Mal ins Ferienlager, ausgerechnet in die DDR – was mein Vater, ein eingeschworener CSU ler, Strauß-Fan und Kommunistenfresser, mit einer gewissen Grundskepsis betrachtete.
    Bis 1961 stand ja noch keine Mauer. Dafür gab es bei uns zum Einkaufen den Konsum – und den gab es auch im Osten. Eines Tages kam meine Mutter von der Arbeit nach Hause und erzählte von der Möglichkeit, über den Konsum in ein Ferienlager in die DDR zu fahren. Hurra!
    Also sind wir, eine Handvoll Nürnberger Kinder, mit dem Bus in den wilden Osten aufgebrochen, an die Ostsee, nach Ahlbeck, in ein Ferienlager der Jungen Pioniere, der Kinderorganisation der FDJ . Der schwarze Waldi bei den Roten! Mit allem, was dort das Leben aufregend machte, mit allen Schi kanen, mit Fahnenappell, mit »Seid ihr bereit – Immer bereit!« Ja, ich war bereit fürs Leben, und wie!
    Ich war vier Wochen dort und fand das sensationell. Es gab Lagermeisterschaften, Leichtathletik, Tischtennis, Luft gewehrschießen. Natürlich war das alles straff organisiert, aber ich habe von Ideologie null gemerkt. Das war Abenteuerurlaub und für mich das Allergrößte. Dass es das nach dem Mauerbau nicht mehr gab, habe ich unseren roten Brüdern nie verzie hen. Die haben die Mauer gebaut, die haben mir meine Ferien kaputtgemacht. Ich wusste zwar nicht, wer die Schweinepries ter von der SED waren, über die mein Vater immer schimpfte. Aber ich wusste, ich durfte nicht mehr ins Konsum- Ferienlager. Und das war furchtbar für mich. Meine Erinnerung an den Mauerbau sah so aus: Ich hatte keine Verwandten dort, aber ich hatte Renate, meine Ferienbekanntschaft aus dem Osten. Meine erste Liebe!
    Renate! Im dritten Ferienlagerjahr, in der Schössersmühle im Harz, traf ich sie. Da kam bei mir zum ersten Mal das Gefühl auf, mit zwölf, dass es einen Unterschied zwischen Männlein und Weiblein gibt. Der Unterleib geriet erstmals in Bewegung.
    Weil ich im dritten Jahr schon alle Abläufe kannte, wus ste ich, was ich mitbringen musste: Wrigley’s-Kaugummi, denn nur der zählte – so wie alles, was amerikanisch war. Außerdem Bananen, schon damals ein großer Hit im Osten, Orangen und Schokolade. Ich war super ausgestattet, vom Konsum-Laden meiner Mutter, und ich war begehrt. Denn ich Schlauberger kannte die
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