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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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es.
    F: Können Sie sich erinnern, was sie tat, als sie Sie entdeckt hatte?
    A: Sie löste mir das Klebeband vom Mund und fragte, was geschehen sei.
    F: Und Sie sagten es ihr.
    A: Ich bat sie, das restliche Klebeband zu entfernen und sofort Anita … also meine Frau anzurufen, um ihr zu sagen, wo ich sei.
    F: Und das tat sie auch.
    A: Ja. Sie können sich wohl vorstellen, dass das alles ein wenig durcheinander ging. Das Gespräch verlief etwas unglücklich. Ich hätte selbst anrufen und meine Frau beruhigen sollen. Dann wäre es auch nicht zu diesem etwas übertriebenen Einsatz der Polizei gekommen. Ich will niemanden kritisieren, Sie taten ja nur Ihre Pflicht, aber das Ganze bekam dadurch eine völlig unangemessene Dramatik.
    F: Wir hatten eine Vermisstenmeldung und dann den Verdacht auf Menschenraub. Das ist keine Kleinigkeit, wissen Sie das?
    A: Ich kenne den Amtsjargon, habe selber damit zu tun. In diesem Fall war es jedenfalls übertrieben. Es war ja am Ende nichts geschehen. Den größten Schaden hat meine Tochter davongetragen, und daran ist die Polizei nicht ganz unschuldig. Das ist alles, was ich hierzu sagen möchte. Eine Anzeige bringt gar nichts. Das würde nur den emotionalen Zustand meiner Tochter verschlimmern. Sie ist völlig durcheinander. Deshalb will sie auch nicht mit Ihnen sprechen. Etwas mehr Fingerspitzengefühl wäre wünschenswert gewesen.
    F: Es gibt einen Abschiedsbrief an Ihre Tochter, nicht wahr?
    A: Ja.
    F: Haben Sie ihn gelesen?
    A: Nein. Noch nicht.
    F: Wie kam dieser Brief zu Ihrer Tochter?
    A: Er lag im Briefkasten.
    F: In welchem Briefkasten?
    A: In Giuliettas Studio.
    F: Kennen Sie den Inhalt dieses Briefes?
    A: Nein. Ich erfuhr nur davon, als ich aus dem Krankenhaus zurückkam.
    F: Wissen Sie annäherungsweise, was darin stand?
    A: Nein. Meine Tochter hat sehr emotional auf die ganze Sache reagiert, und ich habe noch nicht in Ruhe mit ihr sprechen können. Ich bin sicher, dass sie mir den Brief in den nächsten Tagen zeigen wird, und wenn Sie möchten, kann ich Ihnen den Inhalt dann mitteilen, vorausgesetzt, sie ist einverstanden. Wenn Sie mich fragen, ist es nichts weiter als ein obskurer Abschiedsbrief.
    F: Sind Sie sicher, dass in diesem Brief keine Erklärung für diesen Vorfall enthalten ist? Irgendein Motiv?
    A: Ja. Wenn dem so wäre, hätte Giulietta es mir gesagt.
    F: Herr Battin. Angenommen, Ihre Tochter wäre an jenem Abend nicht in ihr Studio gegangen, so hätten Sie eine weitere Nacht auf diesem Stuhl verbracht, nicht wahr?
    A: Ja. Ich konnte mich nicht von der Stelle bewegen.
    F: Und wenn sie auch am dritten und vierten Tag nicht gekommen wäre, so wären Sie vermutlich verdurstet. Ist das richtig?
    A: Im schlimmsten Falle: ja. Auch wenn das sehr unwahrscheinlich ist.
    F: Herr Alsina hat keinerlei Vorkehrungen getroffen, um die Lebensgefahr, in die er Sie somit gebracht hat, irgendwie zu bannen. Er hat Ihnen weder genügend Handlungsspielraum gelassen, damit Sie Ihr Grundüberleben sichern konnten, noch hat er Ihre Angehörigen benachrichtigt. Nichts dieser Art. Ein unglückliches Zusammenspiel von Zufällen, und Sie wären im Studio Ihrer Tochter jämmerlich verendet, oder? Diese Frage ist sehr wichtig. Ich bitte Sie also, Ihre Antwort gut zu überlegen.
    A: Er hat es billigend in Kauf genommen, dass mir etwas zustößt. So heißt das ja wohl im Amtsdeutsch. Er hat weder eine Schere in Reichweite abgelegt noch Giulietta oder meine Frau benachrichtigt. Nein, er hatte einfach Glück, oder besser: ich.
    F: Herr Alsina und Ihre Tochter hatten eine Liebesbeziehung, nicht wahr?
    A: Ja. So kann man es nennen.
    F: Wissen Sie in etwa, seit wann?
    A: Sie haben sich im September getroffen.
    F: Wissen Sie, wann genau?
    A: Nein.
    F: Kennen Sie die genaueren Umstände dieser Begegnung?
    A: Wie ich schon sagte, bereitete Giulietta sich auf allerlei Vortanz-Termine vor. Sie war in ziemlich schlechter Verfassung, weil sie als eine der wenigen aus ihrer Klasse noch immer kein festes Engagement hatte. Lediglich diese Hospitantenstelle an der Staatsoper. So konnte sie wenigstens trainieren und hatte Aussicht darauf, hier und da einzuspringen, falls jemand aus dem Corps de Ballet krank wurde. Sie hatte schreckliche Selbstzweifel. Wenn Sie x-mal vorgetanzt haben und schon nach der Stange aussortiert werden, ist das schwer zu verkraften. Es gelang ihr überhaupt nichts mehr. Als sie diese Hospitantenstelle an der Staatsoper bekam, ging es wieder ein wenig besser, und sie hatte vor, es im
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