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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Frühjahr an der Deutschen Oper zu versuchen, weil an der Staatsoper auf absehbare Zeit keine feste Stelle frei werden würde. Auf dem Spielplan der Deutschen Oper hat sie dann dieses Tango-Ballett entdeckt. Die Musik liegt völlig außerhalb des Repertoires. Sie wollte sich ein wenig mit Tangomusik vertraut machen und hat sich in Berlin umgehört. Dabei ist sie Herrn Alsina begegnet. Genaueres weiß ich nicht.
    F: Sie kannten sich also ungefähr zwei Monate?
    A: Ja.
    F: Sie müssen diese Frage nicht beantworten, aber ich stelle sie trotzdem. War Ihre Tochter verliebt?
     
    Verliebt? Man hätte ein neues Wort erfinden müssen, um ihren Zustand zu beschreiben. Nach dem Gespräch mit Anita hatte er die nächstmögliche Gelegenheit ergriffen, um Giulietta zu sprechen. Und da hatte er es gesehen. Seine Tochter war für ihn immer das schönste Wesen gewesen, das er sich hatte vorstellen können. Doch als er sie an jenem Abend kurz traf, war ihre Schönheit betörend gewesen. Und er hatte eine Distanz gespürt, auch wenn er überhaupt nicht begriff, woher dieser Eindruck kam.
    »Was macht die Arbeit, Papa?«, hatte sie gefragt und dabei in einen Apfel gebissen.
    »Gut, meine Kleine«, hatte er erwidert.
    »Ich mag es nicht, wenn du mich so nennst. Bitte nenn mich nicht mehr so, ja?«
    »Reine Gewohnheit, verzeih. Kommst du gut voran?«
    »Hmm. Kann ich die Videoanlage aus dem Keller mitnehmen?«
    »Klar. Was macht der Tango? Irgendwelche Fortschritte mit dem Stück?«
    Genauer wollte er nicht nachfragen. Ihre Reaktion zeigte, dass er gut daran getan hatte.
    Sie biss wieder in ihren Apfel und lächelte kurz.
    »Hmm. Wird schon. Aria war gestern da. Sie wird nach Braunschweig ziehen. Was hältst du davon?«
    Aria war ihm völlig schnuppe.
    »Man muss alles versuchen. Soll ich dir die Videoanlage vorbeibringen?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Danke. Ist schon mit Mama besprochen. Sie will, dass ich morgen mit ihr einkaufen gehe, da kommt sie ohnehin vorbei. Du bekommst eine todschicke Begleitung für den Empfang bei Hollrichs.«
    Ein typisches Küchengespräch, zwischen Tür und Angel, sie auf dem Weg hinaus, er hinein. Zu diesem Zeitpunkt kannte sie diesen Typen drei Wochen.
     
    A: Ob sie verliebt war, kann ich so nicht beantworten. Ich will es mal so sagen: Herr Alsina hatte vorübergehend einen überraschend starken Einfluss auf meine Tochter. Da ich weiß, dass meine Tochter einen sehr ausgeprägten eigenen Willen und eine gefestigte Persönlichkeit hat, muss sie wohl so etwas wie Verliebtheit für ihn empfunden haben. Aber das war eine vorübergehende Sache.
    F: Ach ja? Woraus schließen Sie das?
    A: Sie sagten ja bereits, dass Sie nicht sehr viel über Ballett wissen. Und über Ballett-Tänzerinnen vermutlich auch nicht.
    F: Durchaus. Aber ich bin immer bereit, dazuzulernen.
    A: Wer Ballett-Tänzerin werden will, und ich meine damit natürlich: wer eine Karriere in diesem Fach anstrebt, der wird nicht nur bestimmte Dinge nicht tun, sondern eine Sache ganz ausschließlich betreiben: Ballett-Tanz. Daneben gibt es sehr wenig, und in der Phase, in der sich meine Tochter gegenwärtig befindet, überhaupt nichts. Niemand weiß das besser als sie selber. Es ist überhaupt kein Thema. Daher habe ich diese Freundschaft mit Herrn Alsina auch nicht überbewertet. Ein Flirt, nichts weiter.
    F: Ein Flirt? Sieht Ihre Tochter das auch so?
    A: Bezeichnen Sie es, wie Sie wollen. Ich habe das Ganze nicht sehr ernst genommen …
    F: … und luden daher Herrn Alsina zum Abendessen ein.
    A: Das war die Idee meiner Frau.
    F: Herr Alsina war bereits seit zehn Wochen in Deutschland. Zwei Wochen später wäre sein Visum abgelaufen, und er hätte nach Argentinien zurückkehren müssen. Sein Rückflug war ursprünglich für den 26. November gebucht. War Ihre Tochter nicht bedrückt? Sie hatte schließlich fast zwei Monate mit ihm verbracht, oder? Herr Alsina hat ihr, wie Sie selbst gesagt haben, aus einer Krise herausgeholfen, und dabei sind die beiden sich sehr nahe gekommen. Er wohnte sozusagen bei ihr. Sie sagen, das Ganze sei nur ein Flirt gewesen. Warum dann diese Einladung zum Essen? War es Ihrer Tochter vielleicht egal, dass Herr Alsina nach Buenos Aires zurückkehren würde? Oder wollte er noch etwas länger bleiben? Beabsichtigte sie möglicherweise, mit ihm zu gehen?
     
    Der Mann hatte offensichtlich den Verstand verloren. Giulietta nach Buenos Aires gehen, im Schlepptau eines Tango-Tänzers. Undenkbar!
     
    A: Ich habe keine
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