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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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wir ihr die weite Fahrt von Zehlendorf nach Prenzlauer Berg ersparen wollten. Sie wollte dann unbedingt so eine Fabriketage, und das Angebot war günstig. Natürlich kann man darin auch trainieren, es gibt sogar eine Stange und einen Spiegel, aber Ballett-Tänzer können kaum alleine arbeiten. Wenn niemand korrigiert, kann es sogar schädlich sein. Aber Dehnen und Strecken kann man sich allemal. Jedenfalls wollte sie keine normale Wohnung, sondern so ein Studio. Mittlerweile ist eine Art Wohnung daraus geworden.
    F: Also, seit wann wohnt sie dauerhaft in diesem Studio?
    A: Ich habe nicht gesagt, dass sie dauerhaft dort wohnt.
    F: Herr Battin, ich frage das nicht wegen der Ummeldung, das können Sie getrost vergessen und demnächst nachholen. Es geht hier um die Sache Alsina, nichts weiter.
    A: Seit Beginn der Hospitanz an der Staatsoper, also seit Mitte August, kommt sie kaum noch nach Zehlendorf. Abnabelungsphase nennt man das wohl.
    F: Ihre Tochter hat hier in Berlin studiert?
    A: Ja, an der staatlichen Ballett-Schule.
    F: Sie fahren also mit dem Aufzug in den fünften Stock und betreten das Studio. Herr Alsina begrüßt Sie. Sie legen Ihren Mantel ab und fragen nach Giulietta.
    A: Ja. So war es.
    F: Was geschah dann?
    A: Ich stand noch an der Garderobe, wollte mich gerade umdrehen. Da fiel plötzlich ein Sack über mich. Im gleichen Augenblick erhielt ich einen Tritt in die Kniekehlen und knickte ein. Als ich mich von meinem ersten Schreck erholt hatte, wollte ich um Hilfe rufen, doch er hielt mir den Mund zu. Ich bekam einen Faustschlag in den Magen. Ich stürzte und krümmte mich, was er dazu nutzte, die Fesselung zu vollenden. Danach riss er den Sack auf, befreite meinen Kopf und klebte mir im gleichen Augenblick den Mund zu. Schließlich verband er mir die Augen und schleppte mich weiter in das Studio hinein, wuchtete mich auf einen Stuhl und band mich fest. Am Ende entfernte er die Augenbinde, verstärkte jedoch zuvor den Knebel.
    F: Und die ganze Zeit über fiel kein einziges Wort. Hat er Sie nicht beschimpft, Ihnen irgendetwas vorgeworfen? Hat er geflucht? Sie beleidigt?
    A: Er sagte nichts. Nein, kein Wort.
    F: In der ganzen Zeit, als Sie gefesselt auf diesem Stuhl saßen, hat er kein einziges Mal das Wort an Sie gerichtet?
    A: Nein. Kein einziges Mal.
    F: Dieser Vorfall ereignete sich am Dienstag gegen neunzehn Uhr. Herr Alsina verließ Berlin am Mittwoch mit der Zehn-Uhr-Maschine nach Frankfurt, von wo er am Abend den Anschlussflug nach Buenos Aires nahm. Das Studio verließ er irgendwann in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Das heißt, er verließ das Studio, blieb ein paar Stunden weg, kehrte noch einmal zurück und ging dann endgültig. Ist das so richtig?
    A: Ja. Ich hatte natürlich keine Möglichkeit, die Zeit genau zu verfolgen, aber in groben Zügen stimmt das. Nachdem er mich überwältigt und gefesselt hatte, schien er selber nicht mehr zu wissen, was er als Nächstes tun sollte. Er strich hinter mir herum, tat aber nichts. Ich hatte Angst und war erleichtert, als er endlich ging. Das muss gegen zweiundzwanzig Uhr gewesen sein, denn ich hörte eine Turmuhr schlagen.
    F: Und die ganze Zeit über fiel kein einziges Wort?
    A: Nein …
     
    Er las den Passus mehrmals durch und rief sich diese nicht enden wollenden Augenblicke in Erinnerung, die irren Bewegungen dieses Verrückten, die Art und Weise, wie er vor ihm durchs Zimmer gelaufen war, an der Fensterfront entlang, wie er vor ihn hintrat, ihn anstarrte mit diesem wahnsinnigen Blick. Die Worte des Argentiniers klangen noch in ihm nach. Aber er würde sich hüten, davon zu erzählen. So ein Irrsinn!
     
    A: Ich konnte nicht sprechen, wegen der Knebelung. Ich habe kein einziges Wort von ihm vernommen. Er sagte nichts, absolut nichts.
    F: Gab es irgendeine andere Form der Kommunikation zwischen Ihnen? Gebärden. Blicke. Irgendetwas, das einen Anhaltspunkt für Herrn Alsinas Motive liefern könnte?
    A: Meine Gebärdensprache war relativ beschränkt, wie Sie sich vorstellen können.
    F: Gegen neunzehn Uhr hat er Sie überwältigt. Sie sagten, um zweiundzwanzig Uhr verließ er das Studio, um später noch einmal zurückzukehren. Das macht drei Stunden. Ich meine, er hat drei Stunden mit Ihnen in diesem Studio verbracht. Er muss doch irgendetwas getan haben.
    A: Er rauchte Zigaretten.
    F: Lief er herum? Schaute er Sie an? Konnten Sie sehen, was er tat?
    A: Nein. Ich konnte ihn nicht sehen. Ich spürte, dass er da war. Außerdem hörte ich manchmal
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