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Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes

Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes

Titel: Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
Autoren: Hans Kneifel
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Decken. Ihr Haar lag in weichen Wellen um ihren schmalen Kopf. Ihre blinden Augen sahen ihm entgegen. Ihr Gesicht war unbeschreiblich lieblich und ein wenig bleich im zuckenden Licht zweier kleiner Tonlämpchen, die auf dem Tisch standen. Ihre Miene war erwartungsvoll. Um ihre Handgelenke lagen breite, dünne Reifen, die golden glänzten. Sie trug ein bodenlanges Kleid, das halb durchsichtig war – Dragons Atem stockte bei diesem Anblick im verbergenden und enthüllenden Spiel des Lichtes. An den Armen und am Halsausschnitt, der sich wie eine Blüte von der Brust aufwärts öffnete, erkannte er silberne Stickerei. Sie lächelte und sagte leise: »Ein Becher Wein, Dragon? Komm, setz dich zu mir.« Ein wenig berauscht folgte er ihrer Aufforderung. Es roch anregend nach Speisen, die in silbernen Schüsseln auf dem Tisch standen, nach Gewürzen, die den Gaumen neugierig machten. Während sie Wein aus einer schimmernden Karaffe in einen Kelch goß und ihm reichte, war er erneut gebannt vom Spiel des Lichtes an den Wänden. Das blasse Blau der Abenddämmerung war über den vier Wänden. Die ersten Sterne blitzten am Himmel. Der vage Lichtschein verwandelte die goldenen Tropfen und Linien im schwarzen Stein in fremdartige Sternbilder, und das Licht der Lampen entzündete da und dort feurige Sonnen und ließ goldene Sternschnuppen auf einem Phantasiehimmel verglühen.
    »Der schwarze Stein ist nicht von dieser Welt«, sagte sie. Ihre Finger berührten sich, als sie ihm den schlanken Silberbecher gab. Der Wein und der Becher waren sehr kalt, und er stürzte verwirrt einen großen Schluck hinunter. Der Wein brannte im Gaumen wie flüssiges Feuer. »Ist es nicht, als ob er lebendig wäre? Erfüllt von Bildern auch für deine Augen, Dragon?«
    »Ja«, sagte er fasziniert. »Doch so flüchtig … wie meine Träume …«
    »Hier bewahre ich alte Erinnerungen. Nicht nur meine. Ein wenig davon will ich dir heute zeigen. Aber nun laß uns essen. Du mußt hungrig sein, und meine Hirten kennen Rezepte und Gewürze, um die sie mancher Hofkoch beneiden würde.«
    Dragon war in der Tat hungrig und langte kräftig zu. Das helle Brot schmeckte vorzüglich. Das Fleisch des Bratens war saftig und phantasievoll gewürzt. Einige der Früchte waren ihm unbekannt, und er war neugierig genug, alles zu probieren. Es war die beste Mahlzeit, seit er aus seinem zweitausendjährigen Schlaf aufgewacht war. Und wenn Urgor seine neue Heimat werden sollte, würde er einige dieser talentierten Hirten an den Hof holen müssen.
    Es fiel ihm auf, daß Maratha die Speisen kaum anrührte. Aber ihre blinden Augen ruhten auf ihm, während sie an ihrem Weinkelch nippte, und manchmal berührten sich ihre Hände wie zufällig, und ein seltsamer Zauber ging von dieser Berührung aus.
    Er sprach unentwegt, berichtete von den Ereignissen im Lager der Söhne Nuaks. Sie lauschte geduldig und versonnen den Dingen, die sie schon wußte. Nur einmal unterbrach sie ihn und sagte:
    »Ich war es, die dich aus dem Schlaf der Traumblume weckte, mein geliebter Freund, und dir die Kraft gab, deine Klinge zu führen.«
    »Ich ahnte es … später«, murmelte Dragon. »In dieser Nacht hast du mir wahrhaft im letzten Augenblick das Leben gerettet …«
    »Es wird nicht mehr so schwer sein, dich mit meinen inneren Augen zu finden und zu bewachen, wenn unsere Körper mehr voneinander wissen. Heute nacht, Dragon, wirst du mir ein wenig von diesem Leben zum Geschenk machen. Das ist der Preis für meine Wachsamkeit. Und morgen wird Xando dir den Weg nach Koroskhyr zeigen. Das ist der Ort, an dem unser gemeinsamer Feind seine Schätze hortet.«
    Ein junges Hirtenmädchen kam herein, räumte den Tisch ab und löschte die Glutschalen. Sie wollte die Tonlämpchen nachfüllen, aber Maratha winkte sie hinaus. Sie lächelte Dragon zu und verschwand so lautlos, wie sie gekommen war.
    Die Stille war unirdisch. Die Dämmerung war der Nacht gewichen. Ein Baldachin voller Sterne spannte sich über das Geviert der schwarzen Mauern.
    »Lösche die Lichter, Dragon! Erinnerungen fliehen das Licht.«
    Er tat, wie sie verlangte, und hielt unwillkürlich den Atem an. Noch nie war die Dunkelheit prachtvoller gewesen. Es waren keine Mauern mehr zu erkennen. Der Sternenhimmel reichte ringsum bis auf den Boden herab. Es war, als befinde man sich zwischen den Sternen, und es weckte ein Gefühl der Vertrautheit in Dragon.
    Maratha sank seufzend auf das seidene Lager zurück. Ihre Hand glitt an seinen Hals. Sie
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