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Drachentochter

Drachentochter

Titel: Drachentochter
Autoren: Alison Goodman
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Knäuel landete vor unseren Füßen. Dabei glitt ein an einer dünnen Lederschnur befestigter Anhänger aus seiner Kleidung, eine bleiche Muschelschnitzerei, die Bambusstangen in einem Kreis darstellte. Auch Meister Tozay sah sie, hielt inne, legte mir die Hand auf den Arm, schob mich hinter sich und wandte sich dem Inseljungen zu. Die anderen Jungen stupsten sich gegenseitig näher und waren gespannt, was da kommen würde.
    »Du bist aus dem Süden, ja?«, fragte Meister Tozay. »Von den fernen Inseln.«
    Die Schultern des Jungen strafften sich. »Ich bin aus Trang Dein«, sagte er und hob das Kinn.
    Ich beugte mich nach rechts, um ihn besser sehen zu kön nen. Im Vorjahr hatte der Kaiser sein Heer auf eine Strafexpedition nach Trang Dein geschickt, um die Unabhängigkeitsbestrebungen der Bewohner im Keim zu ersticken. In den Tavernen der Stadt flüsterte man, alle männlichen Gefangenen aus Trang seien wie Tiere kastriert und dazu gezwungen worden, auf den kaiserlichen Schiffen zu dienen. Dieser Junge war erst ungefähr fünfzehn Jahre alt, aber groß genug, um als Mann zu gelten. Gehörte er zu den Verschnittenen von Trang? Ich ließ den Blick nach unten wandern, doch er trug das lockere Gewand und die Hose der Hafenarbeiter. Ich konnte es ihm also nicht ansehen.
    Oder doch? Die Energie eines Kastrierten wäre eine andere als die eines unversehrten Mannes, oder nicht? Vielleicht würde sich meine neue Gedankensicht bei ihm genauso bewähren wie bei der Küchenmagd und dem Lehrling. Die Erinnerung daran, wie ich ihrer mentalen Vereinigung in einem grellen Monsun beigewohnt hatte, ließ mich vor Scham frösteln, aber ich konzentrierte mich dennoch auf die Energiewelt. Erneut hatte ich den seltsamen Eindruck, einen Schritt nach vorn zu machen, und dann war es so blendend hell, dass meine Augen zu tränen begannen. Ich konnte die Energien der einzelnen Menschen nicht unterscheiden; es war ein wirbelndes Durcheinander aus Rot, Gelb und Blau. Dann tauchte wie ein flimmernder Wolkenschatten eine fremde Wesenheit auf. Und ein tiefer Schmerz im Unterleib, zehnmal schlimmer als meine Monatsschmerzen: als würden mir Stacheln durch die Eingeweide gezogen. Nur eine Macht, die von bösen Geistern herrührte, konnte mit solcher Qual einhergehen. Dann verzerrten sich die Wahrnehmungen meines inneren Auges. Zitternd atmete ich ein, als die Gasse wieder in mein Blickfeld zurückkippte. Der Schmerz verschwand. Nie wieder würde ich es wagen, mich derart ungezähmten Energien auszuliefern.
    Neben mir hörte ich Meister Tozay sagen: »Ich fische an der Küste vor Kan Po. Ein paar von deinen Landsleuten haben auf meinen Booten gearbeitet. Das war natürlich vor der Strafexpedition. Sie waren alle gute Arbeiter.«
    Der Inseljunge nickte misstrauisch.
    »Auf den Inseln ist inzwischen wieder Ruhe eingekehrt«, fuhr Meister Tozay leise fort. »Es sind nicht mehr so viele Soldaten in Ryoka. Einige Vermisste machen sich zurück auf den Weg nach Hause.«
    Der Junge ließ den Stein fallen und tastete nach der Muschelschnitzerei. Er umklammerte sie wie einen Talisman, sah erst die anderen Jungen, dann Meister Tozay an und zog die Schultern hoch, als wollte er mit seinen Kameraden plötzlich nichts mehr zu tun haben.
    »Ist das ein Angebot?«, stammelte er.
    »Vielleicht hab ich eine Stelle für dich«, sagte Meister To zay. »Wenn du ehrliche Arbeit suchst, komm morgen zum Pier Grauer Marlin. Ich warte bis zur Mittagsglocke.«
    Er wandte sich ab und schob mich weiter. Als wir die Gas se verließen und auf die belebte Straße der Süßwarenverkäufer kamen, drehte ich mich nach dem Inseljungen um. Er starrte uns gedankenverloren nach und hielt den Anhänger noch immer umklammert.
    »Was trägt er um den Hals?«, fragte ich Meister Tozay, als wir die Straße überquerten. »Ein Glückssymbol?« Doch mir war klar, dass der Anhänger mehr als das sein musste.
    Mein Begleiter schnaubte. »Nein, mit Glück hat es nichts zu tun.« Er musterte mich durchdringend. »Ihr habt das Gesicht eines Politikers, Eon. Ich wette, Ihr wisst viel mehr als das, was Ihr die Welt sehen lasst. Wie also würdet ihr die Veränderungen in unserem Land beschreiben?«
    Mehr Bettler, mehr Überfälle, mehr Verhaftungen, mehr Schimpftiraden gegen den Kaiserhof. Ich hatte meinen Meister überdies in Gesprächen mit anderen seines Ranges flüstern hören: Der Kaiser ist krank, der Thronfolger ist zu unerfahren, und die Treue des Hofstaats gilt nicht einem, sondern
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